
Gut möglich, dass Benjamin von Stuckrad-Barre - "Stucki" für seine Fans - mit der Einschätzung seiner Arbeit richtig liegt: "Was ich mache, macht sonst keiner. Weil das sonst auch keiner kann." Was Stucki macht? Er ist auf Lesereise mit "Noch wach?", am Samstag machte er Station im ausverkauften Würzburger Bockshorn. Der Roman (Kiepenheuer & Witsch) gilt als Abrechnung mit dem Springer-Verlag und dem inzwischen geschassten "Bild"-Chefredakteur. Und als Abgesang auf Stuckrad-Barres Freundschaft mit Springer-Chef, Verzeihung: CEO Mathias Döpfner.
Alles ausgedacht, alles Literatur, alles gedeckt von der Kunstfreiheit, versichert Stuckrad-Barre ein ums andere Mal. Denn die andere Seite hat Anwälte in Mänteln, "die mehr kosten, als wir alle zusammen je verdienen werden".
In der Welt des Berliner Boulevard-TV-Senders ist man "im Game" und "outstanding"
Wobei der Begriff "Lesereise" irreführend ist. Der Abend sei keinesfalls eine "literarische Lesung", betont der Autor, bevor ihm ein "Ich bin ja nicht behindert" rausrutscht. Stucki liest nicht, er performt, wie die Figuren aus "Noch wach?" sagen würden. In der Welt des Berliner Boulevard-TV-Senders ist man, solange es läuft, "im Game". Oder sogar "outstanding".
Aber Vorsicht! Wenn der rechtsradikale Chefredakteur die neue Mitarbeiterin so lobt, hat er sie schon als Objekt seiner besonderen "Förderung" auserkoren. Wie die aussieht, ist inzwischen bekannt, ebenso wie das zögerliche bis widerwillige Einschreiten des CEO. Es geht los mit nächtlichen SMS wie eben "Noch wach?" oder "Ich will deinen Körper spüren" und endet in einem angemieteten Appartement in der Nähe des Sender-Hochhauses, auf dessen Dach ein riesiger Bildschirm Sensationen wie "Schmutziges Liebes-Aus" in die Stadt krakeelt.

Dieses "alles ausgedacht" ist einer von vielen Running Gags, die Benjamin von Stuckrad-Barre in diesen pausenlosen, extrem unterhaltsamen zweieinhalb Stunden virtuos platziert. Leseabschnitte wechseln sich mit witzigen Plaudereien ab. Da ist sein Hadern, dass ihn Dora Held mit "Liebe oder Eierlikör" von Platz 1 der Bestsellerliste verdrängt hat - "diese Eierlikörtante". Oder die - angeblich - verschüttete Erinnerung an seinen letzten Auftritt in Würzburg. In der Posthalle war das, wissen die Fans. Mit "Panikherz", meinen manche, das wäre 2016 gewesen, belegt ist ein Auftritt 2018 mit "Remix 3".
Hinter all dem Spott tritt immer wieder ein echtes Anliegen hervor
Mehr als das musikalische Intro mit "Toxic" von Britney Spears und "Out Of The Dark" von Falco braucht er nicht: Er selbst ist die Show. Die Fans feiern ihn als den Popstar, der er seit "Soloalbum" ist - mit allen Höhen und Tiefen. Sie lieben seine Selbstironie, seine Koketterie, seine Lästereien, seine Spontaneität. Sein Angebot, zum Rauchen zu ihm auf die Bühne zu kommen, nehmen einige wahr: vier Männer und eine Frau.
Hin und wieder blitzt auf, dass er sich in der Welt der - männlichen - Macher vielleicht nicht immer nur unwohl gefühlt hat, etwa, wenn er zum lauten Vergnügen des Saals über "Frauen in der zweiten Lebenshälfte" herzieht, die Coach werden, weil ihr eigenes Leben Mist ist.

Aber hinter all dem Spott tritt immer wieder ein echtes Anliegen hervor. Etwa wenn die Heldin Sophia den Ich-Erzähler über den Alltags-Sexismus aufklärt, den jede Frau kennt, und der lange beginnt, bevor ein Chefredakteur übergriffig wird. Oder das Nachdenken über unseren zwiespältigen Umgang mit überführten Promi-Sex-Tätern: "Der Komiker Louis C.K.? Schlimm, aber nicht Weinstein-schlimm."
Sein Therapeut habe ihm eingeschärft, Applaus nicht mit Liebe zu verwechseln, sagt Stucki zum Schluss, nach dem Jubel auf der Bühnentreppe sitzend. Und dann wirkt er plötzlich ganz unironisch: "Eure Treue macht mir ein schönes warmes Gefühl. Für mich kommt das an als komplette Liebe."
... in Wahrheit dreht sich dieser Roman ("Noch wach?") nämlich ausschließlich um Männer. Um Günstlingswirtschaft, um Männerkämpfe, um Männerrache, um Männerliebe.
Und das ausgetragen auf dem Rücken der Frauen, die dazu herhalten, dass sich Männer ein weiteres Mal so unfassbar spannend mit sich selbst beschäftigen ....(Iris Radisch, ZEIT Nr. 18 /27.04.03)