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WALDBÜTTELBRUNN
Wenn Ärzte Fehler machen
Andrea Liebig ist Vorsitzende der Notgemeinschaft Medizingeschädigter in Würzburg. Der Verein steht Betroffenen und Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite.
Foto: Angelika Kleinhenz | Andrea Liebig ist Vorsitzende der Notgemeinschaft Medizingeschädigter in Würzburg. Der Verein steht Betroffenen und Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite.
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 27.04.2023 02:15 Uhr

Was sie erlebt hat, ist schlimmer als jeder Alptraum. Doch Andrea Liebig lebt. Sie atmet. Sie kämpft. Und das, obwohl Ärzte sie schon mehrfach abgeschrieben hatten. Ein ärztlicher Behandlungsfehler während einer Krebsoperation „hat mein Leben ruiniert“, ist sich Liebig sicher. Seitdem kämpft die 54-Jährige aus Waldbüttelbrunn um eine finanzielle Entschädigung.

6200 bestätigte Behandlungsfehler 2015

Andrea Liebig ist nicht die Einzige. Immer mehr Patienten suchen wegen des Verdachts eines Behandlungsfehlers Hilfe bei ihrer Krankenkasse. Bundesweit waren es allein im vergangenen Jahr 4064 von einem Gutachter bestätigte Fehler. Nimmt man Beschwerdestellen der Ärzteschaft hinzu, sind es rund 6200. In 205 Fällen starben die Patienten, wie der Medizinische Dienst des Kassen-Spitzenverbands mitteilt.

Der Leidensweg von Andrea Liebig begann im Oktober 2010 mit der Diagnose Darmkrebs. Zu diesem Zeitpunkt war sie noch optimistisch. „Die Heilungschancen standen gut, da habe ich mir nicht den Kopf zerbrochen“, sagt die gelernte Krankenschwester. Dass sie wegen ihres schweren Asthmas und einer Nebennierenrindeninsuffizienz (die Nebennierenrinde ist nicht mehr in der Lage, genügend Hormone zu produzieren) täglich Kortison einnehmen musste, war den Ärzten bekannt.

Dass die Kortisondosis in körperlichen Stress-Situationen erhöht werden sollte, ist Endokrinologen ebenfalls bekannt.

Doch niemand sagte zu ihr: „Gehen Sie mal lieber zum Facharzt und lassen Sie Ihre Dosis anpassen.“ So nahm sie weiterhin täglich ihre sechs Milligramm. Es folgte die zermürbende Chemotherapie. Dann 2011 der Ultraschall: „Mensch, der Krebs ist weg, gratuliere!“ sagte ihr der behandelnde Arzt. Nur noch eine kleine weiße schimmernde Schicht sei da, die müsse natürlich weg. „Kein Problem,“ dachte Liebig. Sie hatte als Krankenschwester schon auf der Onkologie gearbeitet, wusste, was auf sie zukommt und sagte sich: „Das stehst du durch, im Oktober gehst du wieder arbeiten.“

Drei Wochen im künstlichen Koma

Die Operation von Andrea Liebig wurde um einen Tag verschoben. „Und dann, ja und dann wurde ich drei Wochen später wieder wach und konnte mich nicht mehr bewegen.“ Drei Wochen lang war sie im künstlichen Koma gelegen. Mehrfach hatten die Ärzte ihre Kinder und Eltern auf ihr baldiges Ableben vorbereitet. Als die kranke Frau schließlich die Augen aufschlug, war sie von Kopf bis Fuß gelähmt.

„Ich konnte nur noch meinen Kopf drehen. Das wars. Da ging nichts mehr.“ Sie schluckt. „Ich hatte Panik. Ich konnte nicht reden, ich hatte ja keine Sprechkanüle drin. Ich habe mich übergeben. Immer und immer wieder. Wochenlang.“

Dass viele der körperlichen Kettenreaktionen, die der sechsstündigen OP folgten, mutmaßlich von dem falsch dosierten Kortison ausgelöst wurden, auf diese Idee kam Liebig zwei Jahre später. Ein ärztliches Gutachten hat mittlerweile bestätigt: „Die fehlerhafte Verabreichung der Kortisonpräparate (...) stellt einen ärztlichen Kunstfehler dar. Weiterhin kommt der medizinische Sachverständige zu dem Ergebnis, dass „der lebensbedrohliche Kreislaufschock, das drohende Nierenversagen, eine Critical-Illness-Polyneuropathie (Erkrankung des peripheren Nervensystems, die schwere Lähmungen verursacht), anhaltend hohes Fieber, die Übersäuerung des Blutes, eine traumatische Belastungsstörung sowie die Notwendigkeit der künstlichen Beatmung“ und Einiges mehr eine Folge „der fehlerhaften Kortison-Therapie“ waren.

„Ich wollte einfach nur raus aus dem Krankenhaus“

Doch daran gedacht hat zu diesem Zeitpunkt niemand. Andrea Liebig musste alles wieder neu lernen: essen, sitzen, trinken, laufen. Es war der pure Horror“, erinnert sich die 54-Jährige. Die Ärzte sagten zu ihr: „Das wird sehr, sehr lange dauern“. Doch Liebig dachte: „Ohne mich. Ich wollte einfach nur raus dem Krankenhaus.“ Also kämpfte sie. Und kämpfte. Erst auf der Intensivstation, dann auf der Normalstation, dann auf der neurologischen Frühreha und schließlich während der Reha in Bad Kissingen.

Ihr Selbsterhaltungstrieb und Ehrgeiz, wieder auf die Beine zu kommen, waren – so Liebigs Eindruck – manchem Arzt und mancher Schwester lästig, die sich in einem engem Zeitkorsett um ihre Patienten kümmern mussten. „Als behinderter Mensch bist du nichts“, erinnert sich die 54-Jährige. Sie rang weiter mit ihrem Körper, kämpfte gegen die Lähmungen an, nahm alle Therapieangebote wahr. Aus der Reha marschierte sie schließlich zu Fuß wieder heraus.

„Doch es hat alles nichts genutzt.“ Andrea Liebig seufzt. Mehr als fünf weitere Operationen folgten aufgrund verschiedener Komplikationen. Seither leidet sie an Blaseninkontinenz und die Nerven in ihrem rechten Bein sind schwer geschädigt. Ihre Ehe ging in die Brüche. Weder als Krankenschwester noch als Fachinformatikern kann sie jetzt noch arbeiten.

Krankenkasse versucht Ansprüche geltend zu machen

Doch Andrea Liebig gibt nicht auf: Ihre Krankenkasse versucht, bei der gegnerischen Versicherung ihre Ansprüche geltend zu machen. Jetzt wird es ernst: „Einigung, Schlichtung oder es geht vor Gericht.“ Wenn es der Krankenkasse gelingt, Geld für die Behandlungskosten zu erstreiten, hat auch Andrea Liebig gute Chancen auf Schmerzensgeld und Verdienstkostenausfall.

Tausende Patienten werden Opfer von Ärztefehlern       -  Trotz aller Bemühungen um mehr Sicherheit in der Medizin haben Gutachter 2015 erneut bei Tausenden Patienten Ärztefehler festgestellt.
Foto: Friso Gentsch, dpa | Trotz aller Bemühungen um mehr Sicherheit in der Medizin haben Gutachter 2015 erneut bei Tausenden Patienten Ärztefehler festgestellt.

Ferner engagiert sich die 54-Jährige in der Notgemeinschaft Medizingeschädigter und erzählt ihre Geschichte in Radio (SWR4) und Fernsehen (SWR Nachtcafé). Einige Mut machende Zuschriften nach ihren Auftritten habe sie schon bekommen. Ihr Ziel: Das Patientenrechtegesetz von 2013 müsse verbessert werden: zum Beispiel mit einem Härtefallfonds für Menschen, die keine Rechtsschutzversicherung haben.

Bislang muss der Patient selbst nachweisen, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Das ist nur mit einem medizinischen Gutachten (etwa 2000 Euro) möglich. Im Bayerischen Landtag werde bereits darüber diskutiert, so Liebig, die sich mittlerweile auch politisch engagiert.

Sitzt man ihr gegenüber, kann man sich schwer vorstellen, dass ihr ganzer Körper wie sie sagt „aufgeschlitzt und völlig vernarbt“ von den zahlreichen Operationen ist. Noch immer spricht die 54-Jährige aus Waldbüttelbrunn mit fester Stimme. Noch immer blitzt unter der Oberfläche erlittener Schicksalschläge ihr Optimismus durch. Noch immer hat sie ihren Lebensmut nicht verloren.

 



 

Hier finden Betroffene Hilfe

In ganz Deutschland prüften 14 828 Mal Gutachter im Auftrag der Krankenkassen im vergangenen Jahr, ob ein Arztfehler vorlag. Die Zahl der bestätigten Fehler stieg im Vergleich zum Vorjahr um 268 auf 4064. In 205 Fällen starben die Patienten.

Zusätzlich beschwerten sich 2015 rund 12 000 Patienten bei Stellen der Ärzteschaft. Hier wurden 2132 Fehler festgestellt. Niemand weiß, wie viele Patienten sich direkt an Gerichte, Anwälte oder Versicherungen wenden. Außerdem gibt es noch die hohe Dunkelziffer.

19 000 Tote jährlich, so hoch schätzt die AOK in ihrem Krankenhausreport 2014 die Zahl der Toten, die jährlich wegen Behandlungsfehlern in Kliniken sterben. Die Zahl ist umstritten. Zu viele Infektionen, zu wenig Aufklärung und falsche Medikamente seien die Ursache.

Fast 500 Behandlungsfehler hat die AOK in Bayern im vergangenen Jahr bei ihren Versicherten registriert. Am häufigsten passieren demnach Fehler in der Chirurgie, der Orthopädie und der Zahnmedizin sowie Kieferchirurgie.

Auf alle gesetzlich Krankenversicherten in Bayern könne man hochgerechnet von rund 1200 Fällen jährlich ausgehen, sagt Dominik Schirmer, Bereichsleiter Verbraucherschutz bei der AOK. Das seien 3,4 Fälle pro Tag.

Vertreter der Krankenkassen fordern ein bundeseinheitliches Zentralregister für Behandlungsfehler. Bisher würden Arztfehler oft tabuisiert und als individuelles Versagen gebrandmarkt, anstatt aus ihnen zu lernen. Um den Geschädigten zu helfen, müsse ferner ein Teil der Beweislast bei den Ärzten liegen.

Betroffene sollten wissen: Sobald ein Fehler durch ein Gutachten bestätigt wird, läuft die Verjährungsfrist von drei Jahren.

Am 17. September ist Tag der Patientensicherheit mit Veranstaltungen in ganz Deutschland (z. B. in Erlangen, Frankfurt, Darmstadt).

Hier finden Betroffene Hilfe:

Notgemeinschaft Medizingeschädigter: Verein mit Sitz in der Würzburger Scanzonistraße, Telefon: 0931 573161, E-Mail: info@bngm.de

Unabhängige Patientenberatung Deutschland: Das Beratungsmobil kommt am Samstag, 22. Oktober, von 10 bis 15 Uhr nach Bad Mergentheim und am Donnerstag, 20. Oktober, von 10 bis 15 Uhr nach Schweinfurt.

Telefon: 08 00 0117725, E-Mail: terminvereinbarung@patientenberatung.de

Aktionsbündnis Patientensicherheit: Termine und Ansprechpartner im Internet unter:

www.aps-ev.de akl

 
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