Ob in der Schule, im Elternhaus oder im Sport: Werden Kinder immer wieder angebrüllt, eingeschüchtert oder erniedrigt, hat das gravierende Folgen. Psychischer Druck, so sagen Forscher vom Deutschen Jugendinstitut (DJI), kann zu Entwicklungsstörungen führen. Eine Studie der Universität von Minnesota aus dem Jahr 2015 zeigte: Emotionale Gewalt wirkt sich ähnlich schlimm auf die psychische Gesundheit aus wie körperliche Gewalt. Auch Elisabeth Kirchner vom Verein "Wildwasser" in Würzburg sagt: "Ja, das wird unterschätzt! Es gibt viele, die meinen, verbale Gewalt zähle nicht so viel wie körperliche Gewalt." Dabei litten viele Menschen nachhaltig, manchmal noch im Erwachsenenalter darunter, wenn sie in ihrer Kindheit mit Worten gedemütigt wurden.
Würzburger Eiskunstläufer und die Vorwürfe gegen Karel Fafjr
Anlass für die Nachfrage bei der Würzburger Psychologin sind die aktuell geäußerten schweren Vorwürfe des Würzburger Eiskunstläufers Isaak Droysen (19) gegen seinen ehemaligen Bundestrainer Karel Fafjr (74). Droysen beklagt neben Schlägen auf Arme und Beine vor allem die permanente seelische Gewalt, die er als Kind und Jugendlicher im Training erlitten habe. Fajfr, der Mitte der 90er Jahre in einem aufsehenerregenden Prozess unter anderem wegen Kindesmisshandlung rechtskräftig verurteilt worden war, bestreitet die Vorwürfe des Würzburger Nachwuchssportlers.
- Lesen Sie hier über den Fall: Jahrelange Misshandlung durch den Trainer? Die Vorwürfe von Isaak Droysen
Wie schwer wiegen solche Vorwürfe im Sport? Anbrüllen, hart angehen, schimpfen, toben, vielleicht beleidigen - gehört das nicht bei einer Sportkarriere, im Training dazu? "Nein. Das sollte nicht dazugehören" sagt Elisabeth Kirchner. Die gängige Meinung, Brüllen und Schimpfen seien im Sport normal und erforderlich, führe ja genau dazu, dass seelische Gewalt und ihre Folgen massiv unterschätzt würden. Bei einer von "Wildwasser" organisierten Fachtagung mit der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt (DGfPI) jüngst in Würzburg erklärte auch Bayerns Familienministerin Kerstin Schreyer: „Der Kinderschutz steht ganz oben auf meiner Agenda. Jeder Fall von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist einer zu viel!"
Wo ist die Grenze im Sport?
In ihrem Ministerium sei seelische Gewalt klar definiert, so Schreyer: "Unter den Begriff seelische Misshandlung sind Haltungen, Äußerungen und Handlungen von Bezugspersonen zu fassen, welche das Kind beziehungsweise den Jugendlichen überfordern und ihm das Gefühl von Ablehnung und eigener Wertlosigkeit vermitteln, die das Kind in zynischer oder auch sadistischer Weise herabsetzen oder das Kind bedrohen und terrorisieren."
Ganz unabhängig von den Vorwürfen des Würzburger Eiskunstläufers Isaak Droysen gegen Trainer Karel Fajfr treibt die Frage, wo die Grenze im Umgang mit Kindern und Jugendlichen auch und gerade im Sporttraining sein sollte, die Experten regelmäßig um. Für Psychologin Elisabeth Kirchner ist klar: "Je größer die Abhängigkeit ist, desto größer ist das Ausgeliefertsein der Schwächeren, aber auch die Verantwortung der Mächtigeren, also in diesem Fall der Trainer."
Unter seelischer Gewalt verstehen die Experten unter anderem fortwährende Demütigungen und Abwertungen wie "Du fette Sau" oder "Du bist doch nur blöd". Kinder, die Tag für Tag solchen verachtenden Botschaften ausgesetzt seien, hätten es äußerst schwer, ein gesundes Selbstvertrauen aufzubauen. Sie würden dazu gebracht, selbst daran zu glauben, dass sie wertlos sind. Seelische Gewalt liege auch vor, wenn körperliche Gewalt angedroht würde.
Traumatisierung durch ständige Demütigungen
Bei fortwährenden Demütigungen und Drohungen, so Kirchner, spreche man von Mikrotraumatisierungen. Diese wirkten in der Folge wie eine große Tat. Wenn ein Kind sich also nach dem Training schon bewusst von seinem Sport abgrenzen müsse, um 'nicht verrückt zu werden', könne man von einer solchen Mikrotraumatisierung ausgehen. "Wenn das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein so erschüttert ist, dass man sich nichts mehr zutraut und Angst vor einer nächsten Begegnung hat, dann ist der Leidensdruck erheblich und muss sehr ernst genommen werden", so Kirchner. Selbst wenn eine Situation vorbei sei, so trage das Kind oder Jugendliche sie weiter in sich.
Finden Demütigungen in aller Öffentlichkeit statt, wie es im Sport oft der Fall sei, dann wirke sich das noch sehr viel fataler aus. Dann komme ein großes und sehr belastendes Schamgefühl dazu, so Kirchner: "Das muss sich mal vorstellen: Es schämt sich das Opfer! Dabei müsste sich der Täter schämen!" Erwachsene, die Zeuge solcher Behandlungen von Schutzbefohlenen würden, müssten sofort eingreifen. Minimum sei es, dem Kind zu signalisieren: Ich habe es gesehen, das ist nicht in Ordnung. "Meiner Meinung nach hat man die Pflicht, sich einzumischen", sagt die Psychotherapeutin.
Sprüche wie "Eine harte Hand hat uns früher auch nicht geschadet" seien in höchstem Maße zynisch und verwerflich. Motivation auch und gerade im Leistungssport könne und müsse anders aussehen. "Dass mal gebrüllt wird, lässt sich wohl nicht vermeiden", so Kirchner. "Wenn Demütigungen und Anschreien im Training jedoch Methode sind, dann handelt es sich um Gewalt." Wer Leistungssport betreibe, müsse sich im Klaren darüber sein, wie hart und quälend das nicht nur für den Körper sein könne. "Erwachsene können das überblicken und entscheiden. Kinder können es nicht. Deshalb tragen die Erwachsenen im Umfeld dieser Kinder eine besonders hohe Verantwortung."
Kinder äußern ihr Leid oft subtil
Oftmals sei die Scham der Kinder über Demütigungen so groß, dass sie ihren Eltern oder Bezugspersonen davon nichts sagen. Ältere Kinder, die wissen, was die Eltern tun, um ihnen den Sport und Erfolg zu ermöglichen, trauten sich nicht, ihre Eltern auch noch mit "so etwas" zu belasten. Manche Kinder, so Kirchner, äußern ihre Qual subtil: Sie erfinden regelmäßig Ausreden oder behaupten, der Sport mache ihnen keinen Spaß mehr, um der Situation im Training zu entgehen.
Fest steht für Kircher: "Wenn sich ein Trainer nicht unter Kontrolle hat und regelmäßig cholerische Anfälle bekommt, dann muss er sich Hilfe holen. Tut er das nicht oder ist die Therapie nicht wirksam, dann darf er in diesem Bereich nicht arbeiten." Kinderschutz und damit eben auch die seelische Gesundheit von Schutzbefohlenen hätten oberste Priorität. Seit dem Jahr 2000 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. Züchtigungen wie Ohrfeigen oder eine Tracht Prügel sind verboten, werden mit einer Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet.
Nachtrag: Die Staatsanwaltschaft hatte das Ermittlungsverfahren gegen Karel Fajfr wegen der Vorwürfe Droysens von angeblichen Schlägen auf Arme, Beine, Rücken und ins Gesicht mangels Tatverdachts eingestellt. Diese Entscheidung hat die Generalstaatsanwaltschaft München nach Beschwerde Droysens bestätigt. Nun hat das Amtsgericht Sonthofen Karel Fajfr am 8. Februar 2021 von dem noch verbliebenem Vorwurf einer angeblichen Ohrfeige Droysens im Herbst 2016 freigesprochen. Der Freispruch ist rechtskräftig.