These 1: Wir meiden Verbindlichkeit, weil wir Flexibilität für wichtiger halten
Wir sind alle irrsinnig flexibel. Im Job müssen wir das sein. Angenommen, wir sagten unserem Arbeitgeber, dass wir Veränderungen nicht schätzen und uns ungern umorientieren - würde er uns behalten? Eben. Also bearbeiten wir nur so lange ein wichtiges Thema, bis ein noch wichtigeres kommt und lassen auf Befehl von Oben das Wichtigere fürs Allerwichtigste liegen. Diese Art von Flexibilität haben wir dermaßen verinnerlicht, dass wir sie auch im Privatleben praktizieren: Die Einladung nächste Woche nehmen wir gerne an; vorausgesetzt, es kommt keine spannendere daher. Und wir haben ja unser Smartphone für den Fall, dass wir kurzfristig absagen oder umdisponieren müssen. Verpflichtungen? Sind out. Verpflichtungen stören die Flexibilität .
Claudia Beyrle kann davon ein Lied singen. Beyrle leitet die Volkshochschule Hammelburg; und wer annimmt, dass in einer beschaulichen Kleinstadt die Leute noch Gefallen dran fänden, sich längerfristig etwa für einen Kochkurs zu verpflichten, der irrt. Einen Kurs in der Art von "Essen wie Gott in Bayern", zehn Abende, funktioniere nicht mehr, sagt Beyrle: „Niemand bindet sich so lange!“ Kochkurse gingen nur, wenn sie an einem, maximal an zwei Abenden angeboten würden.
Was die Hammelburger Vhs-Küche serviert?„Sushi – neue Rezepte“, "Indisch Kochen. Afterwork Kochkurs“. Und „Indische Küche 4 Every One". Jeweils: 1x. Ja, diese Schreibweise hat sich auch in der Rhön durchgesetzt.
Unsere Liebe zur Unverbindlichkeit beschränkt sich nicht auf die Kurse selbst, sie erstreckt sich auch auf die Anmeldung. Noch vor einigen Jahren seien angesetzte Kurse eine Woche vor Beginn abgesagt worden, wenn nicht genug Teilnehmer zusammengekommen waren, erzählt Stefan Moos, der Leiter der Vhs Würzburg. Mittlerweile sage man nicht mehr ab, sondern halte die Kurse solange wie möglich offen. Aus der „Last-Minute-Anmeldung“ wurde die „Past-Minute-Anmeldung“. Mit „Past-Minute“ meint der Vhs-Chef jene spontanen Kandidaten, die am ersten Kursabend zehn Minuten nach Kursbeginn ihren Kopf zur Tür hineinstrecken und höflich fragen, ob man noch mittrainieren könne?
Erlauben das Kursleiter? „Wenn noch Platz ist“, sagt Moos. Muss man erwähnen, dass unsere Liebe zur Unverbindlichkeit die Vhs-Planer belastet, weil sie ja unabhängig vom Zulauf Räume organisieren, Raummiete zahlen und Dozenten verpflichten und entlohnen müssen? Gesellschaftliche Flexibilität hat ihren Preis.
These 2: Wir leiden unter unserem getakteten Arbeitsalltag und sehnen uns nach Überraschungen
Wir sind von der Familienarbeit, unserem getakteten Arbeitsalltag, dem Zwang, regelmäßig Nachrichten zu checken und dem gesellschaftlichen Druck, unsere Schritte, Kalorien und sogar den Kaffeekonsum zu zählen, total geschafft. Deshalb zögern wir, unsere knappe Freizeit zu verplanen. Das merken die Vhs-Planer: Die Anmeldezahlen sind sowohl in Hammelburg wie auch in Würzburg seit einigen Semestern leicht rückläufig. Aber es gibt Kurse mit wachsendem Zulauf - denn in unserem getakteten Leben fehlt ja was.
Es fehlt der Kick! „Sobald irgendwo ein Event versprochen wird, kommen die Leute“, sagt Claudia Beyrle. Im letzten Semester etwa hat die Hammelburger Vhs-Geschäftsführerin eine lokale Weinexpertin für einen Workshop auf ihrem Bio-Weingut verpflichtet. Dort stapften die Kursteilnehmer durch den Weinberg, sollten Trauben befühlen, riechen, schmecken und lernten, Weinsorten zu erkennen. Natürlich wurden nicht nur Trauben probiert, sondern auch Weine. „Der Kurs war voll“, sagt Beyrle. Sie hofft, dass der neue Schnapsbrennworkshop ähnlich gut läuft.
Auch in Würzburg zollt man dem Wunsch alltagsgeplagter Erwachsener nach Events Rechnung. Raus aus dem Unterrichtsraum, rein in die Bewegung! Weg vom Vortrag, hin zum Selbst-Erwandern, Selbst-Erfahren! Würzburger können nachts „auf geheimnisvollen Wegen durchs nächtliche Würzburg in die Geschichte des Verbrechens schleichen“, „nächtliche Wahrheitssuche“ betreiben, „auf jüdischen Spuren durch die Stadt wandern“ und mittlerweile auch eine „Klima-Tour“ durch die Stadt oder ein Fünf-Kilometer-Wanderung über den Giebelstädter Flughafen absolvieren. Dem Wunsch nach Events kommt die Würzburger Vhs auch mit Überraschungsangeboten zu "Entspannung & Fitness“ entgegen.
Sicherlich steigt der Adrenalin-Spiegel stärker, wenn Kursteilnehmer beim „Überraschungsangebot Fitness“ nicht wissen, ob sie gleich Bauch-Beine-Po machen sollen - oder ins „Bootcamp“ müssen. Fitness im Park und nächtliche Grusel-Wanderungen durch Würzburg haben vermutlich aus Sicht der Planer den erfreulichen Nebeneffekt, dass dafür keine Raummiete anfällt - aber das nur nebenbei.
These 3: Weil wir so gestresst sind, wollen wir achtsam leben
Eigentlich macht jeder von uns dauernd mehrere Dinge gleichzeitig. Wir telefonieren beim Autofahren, hören über Kopfhörer Musik beim Laufen, lesen beim Essen, essen beim Lesen und simsen dem Kollegen Rainer, während wir uns mit Kollegin Lisa unterhalten. Wir wissen, dass uns das nicht gut tut, dass wir in der Konsequenz dann, wenn wir endlich dürfen, schlecht abschalten können. Wie kann der Körper zur Ruhe kommen, wenn das Hirn noch auf Hochtouren läuft?
Genau dieses Thema ist mit Macht in den Volkshochschulen angekommen. „Die Sehnsucht nach Entspannung ist extrem groß, sogar noch größer als die Sehnsucht nach Bewegung“, sagt Würzburgs Vhs-Leiter. Entsprechend viele Kurse wollen deshalb dem modernen Menschen helfen, runterzukommen. Wobei, sagt Moos, es förderlich wäre, vor einer Kursanmeldung herauszufinden, welcher „Entspannungstyp“ man ist. Hilft Kultur am besten oder besser kreatives Schaffen? Auspowern oder meditieren? In jedem Fall empfehlenswert sei, das, was man tue, „bewusst“ zu tun. Kann sein, dass der, der diese Empfehlung für etwas banal hält, ihr eher glaubt, wenn Moos „bewusst“ durch das zeitgenössischere Attribut „achtsam“ ersetzt - wie die Programmgestalter es im Würzburger VHS-Heft tun?
Achtsamkeit ist das bewusste Erleben des Augenblicks. Lebt man Achtsamkeit, gelingt es einem immer öfter, sich in der Gegenwart zu verankern und Sorgen der Zukunft oder den Ärger der Vergangenheit loszulassen. „Achtsamkeit“ lässt sich in „Achtsamkeitsmeditationen“ lernen oder beim Praktizieren der Taiji-Form, durch Yoga oder progressive Muskelentspannung, durch Autogenes Training, möglicherweise sogar durch Schreiben. Gerade hat die Vhs Würzburg die Technik des „Achtsamen Schreibens“, das helfen soll, Erlebnisse zu bewältigen und loszulassen, neu ins Programm aufgenommen.
In Hammelburg allerdings hat es die „Achtsamkeit“ schwerer als in Würzburg. Woran das liegt? Laut Beyrle an den doch eher funktionalen Räumen der Hammelburger Vhs, die mit den mit Teppichen ausgelegten und duftkerzengeschwängerten Entspannungskursen anderer örtlicher Anbieter nicht mithalten können.
These 4: Wir müssen digital leben; etwas anderes bleibt uns nicht übrig
Die Mehrheit von uns lebt Seit an Seit mit High-Tech, wacht mit dem Smartphone auf, führt den Laptop ins Cafe aus und braucht im Urlaub WLan. Die Mehrheit der Gesellschaft lebt digital; die Mehrheit auch der Vhs-Teilnehmer ist schon längst über das Stadium, wo man Anfänger-Computerkurse bei der Vhs bucht, hinaus. Entsprechend hat sich die Klientel verändert. „Kamen die Anmeldungen für Computerkurse früher eher aus dem Privatbereich, sind es heute oft Firmen oder auch kommunale Verwaltungen, die an uns herantreten und uns dort, wo sie Defizite ihrer Mitarbeiter wahrnehmen, um gezielte Angebote bitten“, sagt Moos.
Das könne etwa ein Umstieg auf „Windows 10“ oder auf „Office 365“ sein. Und nein - wenn sich Firmen an die Vhs wendeten, dann keinesfalls deshalb, weil die Volkshochschule in der Preiskalkulation Mitbewerber unterbiete. „Wir haben sehr qualifizierte Dozenten; diese wollen auch gerecht bezahlt werden“, sagt er. Er sagt auch, dass die Vhs, deren Image entgegen der Realität bei manch einem noch von „Makramee und Bauchtanz“ geprägt sei, als Anbieter von Computerkursen unterschätzt werde. Vor allem von Männern. Er habe Ehemänner sagen hören, dass es schon okay sei, wenn ihre Frauen bei der Vhs Computerkurse belegten; sie, die Ehemänner, würden lieber Kurse bei der IHK belegen, berichtet Moos. „Witzigerweise genau die gleichen Kurse: gleicher Dozent, gleicher Inhalt.“
Während die meisten von uns wohl oder übel vor sich hincomputern, weicht eine Minderheit Computern, Smartphones, Downloads und elektronischen Tickets immer noch angstvoll aus. Wobei Minderheit das falsche Wort ist: Immerhin 16 Millionen Deutsche sind digitale Analphabeten. „Die analoge Infrastruktur bricht zusammen, gerade auf dem Land. Immer mehr Einrichtungen ziehen sich aus der realen Welt zurück“, sagt Moos. Was sollten digital Unkundige - und das seien beileibe nicht nur Ältere - denn tun, wenn in ihrem Ort die Bank oder die Krankenkasse ihre Filiale auflöse und nur die Ansage „Besuchen Sie uns Online!“ hinterlasse?
Für diese Leute bietet die Vhs Würzburg jetzt erstmals das Pilotprojekt „dabei sein“ an: Die kostenlosen Kurse werden in Güntersleben und Kist (Landkreis Würzburg) getestet. Kommen könne jeder, die Geräte würden gestellt, der Kurs werde von der Vhs finanziert. Moos sagt: „Das finde ich selbst sehr spannend zu sehen, ob ein Angebot genutzt wird, das keine Hemmschwelle bietet“.