„Spätestens seit dem Anschlag in Heidingsfeld ist die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Lehrern, Schulleitern, Elternhaus und Moscheen in Unterfranken nahezu perfekt“, sagt Volker Sebold. Der Kriminalhauptkommissar spricht von dem Axt-Attentat durch einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling in einem Regionalzug am 18. Juli 2016. Sebold ist schon seit 2002 beim Operativen Staatsschutz mit der Bekämpfung des kriminellen Islamismus befasst. Aktuell ist er für ganz Unterfranken für Deradikalisierung und Prävention zuständig.
Jugendliche nicht kriminalisieren
Während andernorts oft große Skepsis herrsche, wenn Jugendhilfe und Sicherheitsbehörden miteinander kooperieren, sei man sich in Unterfranken einig, dass man „junge Leute nicht kriminalisieren“, sondern verhindern wolle, dass sie sich selbst oder ihre Mitmenschen gefährden. Dafür arbeitet der Staatsschützer eng mit den Extremismus-Experten des VPN (Violence Prevention Network) zusammen. Sie kommen immer dann ins Spiel, wenn Prävention alleine nichts mehr nützt und sich ein Junge oder ein Mädchen bereits radikalisiert hat.
VPN-Mitarbeiter kann man sich, wenn sie sich auf radikalen Neosalafismus und nicht auf Rechtsradikalismus spezialisiert haben, in etwa so vorstellen: schwarzer Vollbart, schwarze Haare, schwarze Augen, schwarze Kleidung, ansteckender Humor. „Wir machen den Spagat zwischen Theologie und Therapie, sind aber keine Psychologen“, sagen die beiden jungen Männer, die ihren Namen nicht in der Presse lesen wollen. Denn: Sie reden mit Radikalen, gewinnen ihr Vertrauen, deradikalisieren und führen die Jugendlichen Schritt für Schritt zurück in ihr normales Leben. Seit 2001 verringern sie so erfolgreich ideologisch schwere bis schwerste Gewalttaten in ganz Deutschland.
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Die beiden, mit denen Volker Sebold zusammen arbeitet, sind praktizierende Muslime. Sie fasten und beten. Doch es sind keine Imame. Der eine hat Germanistik studiert. Der andere ist Konzertpianist. Einmal im Monat sitzen sie mit den Kollegen vom Landeskriminalamt zusammen und besprechen sicherheitsrelevante Fälle. Doch auch bei diesen Jugendlichen gehe das LKA behutsam vor. „Die stemmen nicht gleich die Tür ein“, sagt der eine. Wenn bei ihm das Telefon klingelt, hat sich meist eine besorgte Mutter, ein Vater oder ein Lehrer zuvor an die Polizei gewandt. Ein typischer Fall beginnt mit den Sätzen: „Ein 14-Jähriger hat sich plötzlich einen Bart wachsen lassen. Er ist zum Salafismus konvertiert und äußert sich extrem. Könnten Sie nicht mal vorbeikommen?“
Spagat zwischen Theologie und Therapie
Der VPN-Mitarbeiter fährt hin, manchmal quer durch die ganze Bundesrepublik und wieder zurück, um mit dem 14-Jährigen vor Ort zu sprechen – und sei es auch nur für eine Stunde. Er erklärt ihm, dass vieles, was er vielleicht von einem radikalen Prediger gehört hat, nicht zutrifft. Er legt ihm dar, was in der hiesigen Gesellschaft erlaubt ist. Er zeigt ihm unterschiedliche Quellen und Auslegungen des Islam, eröffnet ihm eine andere Perspektive. Doch im Grunde ist die Ideologie des 14-Jährigen nur der Türöffner.
„Eigentlich geht es um etwas ganz anderes: um Beziehungsarbeit. Meist sind die Jugendlichen sehr bedürftig zu reden. Fast immer haben sie etwas für sie Traumatisierendes erlebt, von Todesfällen in der Familie bis zur Scheidung der Eltern.“ Manchmal dauert die Beziehungsarbeit der Experten mit dem Jugendlichen ein ganzes Jahr, mit Gesprächen zwei Mal pro Woche. Manchmal auch kürzer. So lange, wie es eben nötig ist. Dann zieht sich der VPN-Mitarbeiter wieder zurück. Er sagt: „Meist gehen junge Leute, deren Welt aus den Fugen geraten ist und die nach einem Sinn suchen, radikalen Predigern auf den Leim. Das Internet ist voll von Rattenfängern.“
Theorie vom einsamen Wolf extrem selten
Trotzdem „finden die meisten Radikalisierungsprozesse in realen Gruppen statt“, sagt Alexey Manevich, Islamismus-Experte bei der Beratungsstelle „Radikalisierung“ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg. An die Telefonhotline der Beratungsstelle können sich verunsicherte Freunde, Lehrer, Eltern oder andere Angehörige von gefährdeten Jugendlichen direkt wenden. Sie leiten alles Weitere in die Wege. Die Theorie vom einsamen Wolf ist umstritten und tatsächlich „extrem selten“, ebenso die ausschließliche Radikalisierung übers Internet, so Manevich.
Mutproben wie bei anderen Subkulturen, die Geborgenheit und der Zwang der Gruppe machen die Ideologie einer radikalen Auslegung des Salafismus so attraktiv. Ihr Weltbild ist einfach: Entweder etwas ist verboten und Sünde („haram“) oder erlaubt („halal“). Man müsse nicht viel dafür tun, um ein Bruder oder eine Schwester zu werden, sondern sich nur den Regeln der Gruppe unterordnen, so der Experte. Frei nach dem Motto: „Warst du früher ein Verbrecher, wirst du jetzt ein Held.“ Dennoch: „Die meisten Salafisten in Deutschland lehnen Gewalt ab.“ Es gibt aber immer wieder Jugendliche, die vom IS rekrutiert werden und nach Syrien ausreisen. Ihnen wird eingeredet: „Dein Leben hat keinen Wert, außer, du wirst ein Teil des großen Ganzen.“
Die Gruppe ersetzt die Familie. Oft bezeichnen radikalisierte Jugendlichen ihre eigenen Eltern als Ungläubige. Nur radikale Salafisten maßen sich an, andere Muslime zu exkommunizieren. Jungen und Mädchen sind gleichermaßen gefährdet. Der Psychologe vom BAMF hat selbst erlebt, dass Mädchen von zuhause verschwanden. Später stellte sich heraus, dass sie zum IS nach Syrien geflogen und dort ums Leben gekommen waren.
Extremisten sprechen schon Kleinkinder an
Was ihn aber am meisten erschüttert, ist, dass Extremisten mittlerweile kleine Kinder ansprechen. Konzipiert werden Online-Spiele für Kleinkinder, bei denen klassische Motive aus der westlichen Kultur zu islamistischer Propaganda umgebaut werden. Das Durchschnittsalter von radikalisierten Jugendlichen in der Nürnberger Beratungsstelle liegt bei 17 Jahren, Tendenz fallend. In den ersten zwölf bis 15 Lebensjahren sind Jugendliche besonders anfällig für die Ansprache von Extremisten. Diese beginnt oft ganz harmlos auf der Straße oder auf dem Fußballplatz. Nach und nach werden die Jugendlichen ins Milieu hineingezogen. Ähnlich läuft die Ansprache bei Rechtsextremen ab. „Wir haben Menschen, die zwischen links extrem, rechts extrem, der Hooligan-Szene oder salafistischem Extremismus wechseln“, sagt Manevich.
Von der Syrien-Rückkehrerin, die ihre Kinder radikal erzieht bis zum Einser-Gymnasiasten, der sich einem rechtsradikalen Kader anschließt, sind die Formen des Extremismus in größeren Städten andere als in ländlichen Regionen. Doch die Motivationsprinzipien sind „hüben wie drüben ähnlich“, bestätigt Extremismusforscher Dr. Harald Weilnböck. Er hat das Radicalisation Awareness Network (RAN), ein europäischen Netzwerk gegen Terrorismus und Extremismus mit aufgebaut.
Deradikalisierung beginnt mit dem Erzählen
Doch im Gegensatz zur organisierten Kriminalität könne man Jugendliche, die in die Fänge von Extremisten geraten, aber wieder von ihnen distanzieren. Eine eher untergeordnete Rolle spielen dabei Argumente, sagt Weilnböck, denn: „Extremisten haben keine starken Nerven, sondern starke Impulse“. Er meint damit Schuld, Scham, Aggression oder Furcht. Während Argumente polarisieren, bevorzugt Weilnböck die „heilende Wirkung des Erzählens“, um jemanden zu deradikalisieren. Themen, die bei Gesprächen mit den Jugendlichen immer wieder aufkommen, sind: chronischer familiärer Stress, Gewalterfahrungen, die Clique als Ersatzfamilie, der Mythos vom „richtigen Mann“ oder der „anständigen Frau“ sowie verinnerlichte ideologische Glaubenssätze.
Es bedürfe vieler Akteure – „manchmal ein ganzes Dorf“ – um einen Jugendlichen vom Extremismus zu distanzieren. Dem stimmt Islamwissenschaftler Michael Kiefer zu. Wenn ein Jugendlicher ins Extremistische abdriftet, müssten angefangen bei den Eltern über den Klassenlehrer und den Schulsozialarbeiter bis hin zum Trainer des Fußballvereins, alle miteinander reden, gegebenenfalls auch die Mitarbeiter des Jugendamtes, der Polizei und des Staatsschutzes.
Die Vorträge der Experten werden ab Herbst über die Internetseite des Interkommunalen Präventionsnetzwerkes von Stadt und Landkreis Würzburg verfügbar sein. Die Themen sollen zielgruppenorientiert, beispielsweise für Lehrerkonferenzen, Elternabende und Teamsitzungen abrufbar sein: http://interkommunales-praeventionsnetzwerk-radikalisierung-wuerzburg.de
Ansprechpartner für Angehörige radikalisierungsgefährdeter Jugendlicher
ufuq: Die Fachstelle zur Prävention religiös begründeter Radikalisierung in Bayern mit Sitz in Augsburg ist unter Tel. 08 21- 65 07 85 60 oder unter der E-Mail bayern@ufuq.de zu erreichen.
Polizei: Die Kriminalpolizeiinspektion mit Zentralaufgaben Unterfranken KPI(Z), Operativer Staatsschutz in Würzburg ist unter Tel. 09 31- 457 - 19 85 und unter der E-Mail pp-ufr.wuerzburg.kpiz.praevention@polizei.bayern.de erreichbar.
VPN: Die Beratungsstelle Bayern des Violence Prevention Network (VPN) mit Sitz in München ist unter Tel. 089 - 4 16 11 77 10 oder der E-Mail bayern@violence-prevention-network.de erreichbar.
BAMF: Die Telefonhotline Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg hat die Tel. 09 11 - 9 43 43 43 und die E-Mail-Adresse beratung@bamf.bund.de
Koordinierungsstelle Radikalisierungsprävention Unterfranken: Die Zusammenarbeit mit über 100 Netzwerkpartnern erfolgt über das interkommunale Präventionsnetzwerk von Stadt und Landkreis Würzburg und die Koordinierungsstelle Radikalisierungsprävention Unterfranken mit Sitz in Würzburg, Tel. 09 31 - 37 33 45, E-Mail: praeventionsnetzwerk-radikalisierung@stadt.wuerzburg.de