"Die Zehen strecken!" "Mehr aufrichten!" "Und halten - eins, zwei, drei, vier!" Laut hallt die Stimme von Tanztrainerin Lea Leibold durch die Halle. Dumpf klatschen die Füße auf den Boden. Ab und zu durchdringt Ächzen die Stille, gefolgt von leisem Kichern.
Eigentlich sollten die Tänzerinnen der Clubgarde des Faschingsclub Thüngersheim mitten in der heißen Phase des Trainings sein. An diesem Samstagmorgen im Oktober dürfte nur noch der letzte Schliff fehlen, am 11. November beginnt für die Narren schließlich die fünfte Jahreszeit. Eigentlich ist die Sporthalle zu diesem Zeitpunkt voll mit den verschiedenen Garden. Die Kleinen und die Großen führen sich gegenseitig ihre Tänze vor.
Für die Gardetänzerinnen fällt Fasching aus
Eigentlich. Doch statt in glitzernden Kostümen durch die Halle zu wirbeln, trainieren die jungen Frauen in Leggings und T-Shirt. Ob sie ihre Garderöckchen in diesem Jahr überhaupt anziehen können, ist fraglich.
Dieses Jahr fällt Fasching aus. Nicht nur in Köln, wo die Saisoneröffnung am 11.11 abgesagt ist, auch in Mainfranken. Zumindest gewinnt man den Eindruck, wenn man den Tänzerinnen so zuhört. "Sonst haben wir in der Faschingszeit kein freies Wochenende. Wir treten jedes Wochenende woanders auf." Diese Saison nicht.
Ohne Auftritte fehlt vielen Tänzerinnen die Motivation
Keine Prunksitzungen, keine Umzüge, keine Auftritte bei anderen Faschingsvereinen. "Klar ist man da weniger motiviert", geben die Tänzerinnen zu. "Es fehlt der Druck", sagt die 23-jährige Erzieherin Melissa Palm. "Eigentlich waren wir immer im Zeitstress und haben uns da immer besonders angestrengt", ergänzt Sarah Horn. Mit drei Jahren hat sie angefangen zu tanzen. "Tanzen ist mein Leben. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt im Februar machen soll", sagt sie und man hat den Eindruck, dass sie es nicht nur scherzhaft meint. Der erneute Lockdown, bei dem auch Vereinssport untersagt ist, betrübt die Tänzerinnen trotz allem Verständnis für diesen Schritt.
"Gesundheit geht vor. Wir sind mit so vielen Leuten in den Kabinen, ziehen uns dicht gedrängt um, sind jedes Wochenende woanders, das geht jetzt eben nicht", sagt Rebecca Bunzel, die seit 15 Jahren in der Garde tanzt. Auch wenn sich alle einig sind, dass die Entscheidung große Veranstaltungen abzusagen, richtig ist, die Enttäuschung bleibt.
"Wir haben oft gehört, dass die Gardetänzerinnen inzwischen Motivationsprobleme haben. Sie trainieren und trainieren und dürfen nicht auftreten", sagt der Sitzungspräsident des Faschingsclubs Sebbo Gerhard. Deswegen plant er eine Veranstaltung, damit zumindest ein Auftritt möglich ist. Ob es tatsächlich umsetzbar ist, wird die Entwicklung der Corona-Zahlen zeigen. "Hand aufs Herz, die Chance, dass diese Saison eine Veranstaltung stattfindet, ist gering", sagt er nachdenklich. "Aber wenn es möglich und auch vertretbar ist, machen wir etwas."
Vielleicht wird es einen bunten Abend in Thüngersheim geben, natürlich unter Einhaltung der vorgegebenen Regeln. Vielleicht eine Aufführung vor den Familien. Ein Fastnachtsorden für alle Aktiven gibt es sicher. Ein Trostpflaster. "Meine Eltern wissen, was ich tanze", sagt Bunzel und klingt niedergeschlagen. "Es fehlen einfach die Leute, die dich feiern. Wir trainieren hart, es ist schön von außen zu hören, dass man gut war und dass es sich gelohnt hat", ergänzt Horn.
Fasching ist in Thüngersheim ein Event, bei dem beinahe das ganze Dorf mitfeiert. Die Prunksitzung ist für viele ebenso Pflicht wie das Domino-Laufen im Ort. Von Klein auf ziehen die Thüngersheimer dabei umher und bitten um etwas zu essen oder zu trinken.
"Nach der Wasserwacht und dem Turnverein sind wir mit 350 Mitgliedern einer der größten Vereine im Ort", erklärt Clubpräsident Jochen Junk stolz. Fasching ausfallen lassen ist für ihn keine Option. "Auf gar keinen Fall" ruft er empört.
"Pause vom Fasching, das ist ja, wie wenn der Sommer ausfällt. Man weiß gar nicht wohin mit sich", ruft Büttenrednerin Martina Keller theatralisch. "Wenn man selber so ein Narr ist, ist es eine Katastrophe, wenn alles ausfällt."
Alles wird nicht ausfallen, da ist sich Sebbo Gerhard sicher. "Den Rathaussturm wird es geben - und wenn ich alleine das Rathaus erobere", sagt er und lacht. So kommt es tatsächlich. Noch im Oktober trifft sich Gerhard mit dem Thüngersheimer Bürgermeister zum symbolischen Rathaussturm mit Schlüsselübergabe. " Im Freien und unter Einhaltung der vorgegebenen Regeln", erklärt er. Mit dabei war nur ein Fotograf, der das Ganze festgehalten hat.
Witze am Telefon statt auf der Prunksitzung
Wenig verwunderlich also, dass der Sitzungspräsident Gerhard und Clubpräsident Junk schon seit Monaten überlegen, wie Fasching in Thüngersheim aussehen kann. "Wir haben uns fest vorgenommen, das was geht und das, was vertretbar ist, umzusetzen", betont Junk. "Wenn am Faschingssonntag noch Lockdown oder Ausgangssperre verhängt wäre, würden wir das Telefon in die Hand nehmen und am Telefon Witze erzählen", ergänzt Gerhard lachend.
Doch er meint es ernst. "Ein Fastnachter will die Fastnacht leben. Da geht es nicht nur um Halligalli, da geht es auch darum, das Brauchtum zu erhalten. Es muss keine Prunksitzung sein, es muss kein Faschingszug sein, dann machen wir es halt irgendwie anders." Leidenschaftlich, so muss man seinen Einsatz wohl bezeichnen.
Kein Wunder also, dass Gerhard auch Mitglied der Initiative "A bissle was geht immer" ist, die sich zum Ziel gesetzt hat, Ideen zu entwickeln , wie Fasching im Kleinen und unter Einhaltung der Corona-Auflagen stattfinden kann. Doch hinter fast jeder Idee steht ein großes Fragezeichen.
Ob sie sich in einem solchen Jahr überhaupt die Mühe macht, eine Büttenrede zu schreiben. "Klar", sagt Fastnachtsfan Keller verwundert. Seit 1986 ist sie im Fasching aktiv, seit drei Jahren steht sie in Thüngersheim in der Bütt. Das allgemeine Geschehen im Ort biete auch heuer genug Stoff. Corona sagt sie, sei hingegen kein Thema, um Scherze darüber zu machen. Zur Not würde sie ein Video drehen. Auch die Idee einer "Bütt on Tour", bei der Büttenredner ihre Vorträge an der Haustüre halten, findet sie gut.
Die Corona-Pandemie bereitet dem Verein auch wirtschaftliche Probleme
Die Liebe zur Fastnacht ist das eine, die Nöte des Vereins das andere. Eigentlich gibt es das ganze Jahr über kleine Veranstaltungen, Feste, Aufführungen. Sie halten den Verein am Leben, auch wirtschaftlich. "Ein ganzes Jahr überhaupt nichts machen, dann ist der Verein tot", sagt Clubpräsident Junk. "Alle Einnahmen sind weggebrochen, die Kosten bleiben: Miete für die Halle und das Vereinsheim, Versicherungen, Gema-Zahlungen sind nur ein paar Punkte." Derzeit finanziert sich der Verein zu großen Teilen aus Rücklagen. Nur wie lange noch?
Und dann bleibt die Frage: Wie lange können sich die Narren zum Proben und Trainieren motivieren, wenn die Belohnung, das Bad in Applaus und Rampenlicht, ausbleibt? Junk hat Zweifel: "Wenn das über zwei, drei Saisons so weitergeht, suchen sich viele bestimmt etwas anderes."
Zukunftsmusik. Ans Aufhören denkt derzeit noch keine der Tänzerinnen. Im Gegenteil: "Ich hänge jetzt noch ein Jahr dran. Vielleicht geht nächstes Jahr ja wieder was. Das ist für mich ein Ansporn", sagt die 23-jährige Melissa Palm. Das Fastnacht dann wieder so aussieht wie vor Corona, da sind sie und ihre Garde noch skeptisch. Vielleicht, so hoffen sie, können sie aber wenigstens ein bisschen von dem früheren Faschingsgefühl erleben und wenigstens auf einer Prunksitzung wieder im Schweinwerferlicht tanzen.