Wie viele magersüchtige Kinder und Jugendliche schaffen es, wieder normal zu essen? Wie sieht eine gute Therapie aus? Wir sprachen mit Dr. Arne Bürger, dem stellvertretenden leitenden Psychologen der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum. Bürger arbeitet seit zwei Jahren in Würzburg. Seit 14 Jahren beschäftigt er sich mit essgestörten Patienten, unter anderem an der Berliner Charité und in der Ambulanz für Essstörungen in Mainz. Seine Doktorarbeit hat er zum Thema „Prävention von Essstörungen an Schulen“ verfasst.
Arne Bürger: Bis zu 70 Prozent. Bei Erwachsenen, die bereits deutlich länger an der Krankheit leiden, sind es nur noch 50 Prozent. Je früher die Patienten in der Klinik vorstellig werden und je geringer der Gewichtsverlust zu Beginn der Therapie war, desto größer ist die Chance, dass die Betroffenen die Krankheit hinter sich lassen.
Bürger: Wenn sie nachwirkt. Das heißt, wenn die Patienten den Weg in die Normalität auch nach der Therapie weitergehen. Ein Beispiel: Ein essgestörter Patient hat in der Therapie sein Normalgewicht wieder erreicht. Er braucht den Sport und die starke körperliche Betätigung aber weiterhin, um eine normale Nahrungsaufnahme überhaupt aushalten zu können. Zwei Jahre später sagt er dann von sich aus: Montags mache ich Sport, weil ich Lust dazu habe. Dienstags und mittwochs treffe ich mich wieder mit Freunden. Dann erst ist er in meinen Augen wieder gesund.
Bürger: Zuerst geht es darum, die Gewichtsabnahme zu stoppen. Man kann sich nicht vorstellen, wie schwer das für manche Patienten ist. Anschließend sucht man nach den Risikofaktoren: Wann fällt den Betroffenen das Essen besonders schwer? Beispielsweise nach einem Konflikt mit der besten Freundin oder vor einer Mathearbeit. Manche junge Patienten haben – obwohl sie auf einer Eins stehen – die Angst, dass eine schlechte Note bereits das Aus bedeuten könnte oder dass jemand im Umfeld enttäuscht von der Note sein könnte. Der Leistungsdruck ist bei vielen sehr hoch. Im Gegensatz dazu gibt es die protektiven Faktoren: Was hilft den Betroffenen, dass die Krankheit verschwindet und nicht mehr wiederkommt? Wann fällt ihnen das Essen leichter?
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Bürger: Einige Patienten sagen: „Ich möchte mich von der Masse abheben“ oder „Schlanke Menschen sind klüger und leistungsfähiger“. Andere meinen „Ich fühle mich wertvoller“ oder: „Meine Eltern haben mich lieber, wenn ich eine gute Figur habe“. Die meisten Eltern haben das nie gesagt. Es ist eine subjektive Idee des betroffenen Kindes.
Bürger: Ist jemand richtig krank, kann das bis zu fünf Jahre dauern. Wir Therapeuten wünschen uns, dass die betroffenen Familien nicht lange warten, bis sie uns aufsuchen. Dann geht das deutlich zügiger. Ich hatte schon Patienten, die nach sechs Monaten wieder gesund waren.
Bürger: Die Prävalenzrate liegt bei 1 Prozent, im 14. und 15. Lebensjahr teilweise sogar bei 1,5 Prozent. Wenn man sich ein Mädchengymnasium mit 1 000 Schülerinnen vorstellt, dann bestünde für zehn bis 15 von ihnen das Risiko, eine ernsthafte Anorexie zu entwickeln. Fast 20 Prozent aller Mädchen in diesem Alter zeigen Tendenzen in Richtung Essstörung, beispielsweise, wenn sie einmal in der Woche einen Tag lang hungern oder sogar erbrechen.
Bürger: Auf einen Jungen kommen 25 bis 35 Mädchen. Nur im Leistungssport – beispielsweise bei Skispringern, Marathonläufern oder Boxern (im Fliegengewicht) – gibt es deutlich mehr essgestörte junge Männer. Doch in diesen Bereichen wird kaum jemand die Betroffenen darauf ansprechen. Die so genannte„Anorexia Athletica“ ist weitgehend gesellschaftlich akzeptiert.
Bürger: Das liegt zwischen drei und 16 Prozent. Erwachsene Patienten sind meist deutlich schwerer erkrankt und haben daher ein höheres Risiko, an Magersucht zu sterben.