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WÜRZBURG
Magerwahn schon ab der Grundschule
Angelika Kleinhenz
 |  aktualisiert: 27.04.2023 04:17 Uhr

Der Magerwahn ist mittlerweile an Bayerns Grundschulen angekommen“, sagt Simone Fleischmann. Viele Kinder verfolgten schon in der ersten Grundschulklasse ein Ziel: „Sie wollen gefallen und möglichst attraktiv sein – und das bedeutet für viele Mädchen nur eines: möglichst dünn zu sein.“

Die Präsidentin des BLLV (Bayerischer Lehrer- und Lehrerinnenverband) hält dies für eine gefährliche Entwicklung. Immer wieder führe übertriebener Schlankheitswahn in die Essstörung. Kinder hätten längst ihre Unbedarftheit und Sorglosigkeit verloren. Sie beschäftigen sich wie Erwachsene mit ihrem äußeren Erscheinungsbild und wollten es ständig optimieren. Wer der Norm nicht entspricht, laufe Gefahr, zum Außenseiter oder gar gemobbt zu werden.

Die Hälfte der 15-jährigen Mädchen empfindet sich als zu dick

Lehrer seien zunehmend gefordert, Kindern ein gesundes Körperbewusstsein zu vermitteln. Sie könnten das Problem aber allein nicht lösen. Alle – darunter Eltern, Lehrer, Geschwister, Medien, Gesellschaft – müssten an einem Strang ziehen. Initiativen wie das vom Kultusministerium angebotene Unterrichtskonzept „Bauchgefühl“ zur Prävention von Essstörungen seien hilfreich, reichten aber nicht aus.

Fleischmann appelliert: „Wir brauchen selbstbewusste Kinder, die Zutrauen in ihren Körper und ihren Geist entwickeln. Leistung ist nicht nur die Eins in Mathe oder der perfekte Bodymaßindex.“

Magerwahn, der schon im Grundschulalter beginnt, verschlimmert sich oft, je älter die Kinder werden. Fast die Hälfte der Mädchen und ein Fünftel der Jungen im Alter von 15 Jahren empfinde sich als zu dick, obwohl sie normalgewichtig sind, informiert Dr. Claudia Müller von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Mehr als die Hälfte der 15-jährigen Mädchen habe bereits eine Diät hinter sich, jedes vierte sogar mehrfach.

Eine betroffene Mutter erzählt

Jemand, der weiß, wie schlimm das enden kann, ist eine 50-jährige Mutter aus Mainfranken, deren Tochter an Magersucht erkrankte. Sie sagt: „Es fängt mit einer harmlosen Diät an. Dann rutscht der Betroffene nach und nach in die Essstörung hinein. Erst wird ein bisschen weniger gegessen. Klappt das ganz gut, stellt sich eine Art Glücksgefühl ein. Dann wird immer weniger und weniger gegessen.

“Der Prozess sei schleichend. Oft würden bestimmte Dinge wie Süßigkeiten ganz weggelassen, das Essen versteckt, erbrochen (Bulimie) oder Ausreden erfunden, weshalb man keinen Hunger hat. Es sei schwer, sich einzugestehen, dass das eigene Kind an einer Essstörung leidet: „Als Elternteil hat man natürlich ein schlechtes Gewissen. Man überlegt: Was hat man falsch gemacht? Es war doch eigentlich alles in Ordnung?“

Eine krankhafte Essstörung kann schwere gesundheitliche Folgen haben. Exzessives Hungern kann zu Schwächeanfällen, Kreislaufstörungen, Nierenversagen und sogar Herzstillstand führen. Die betroffene Mutter sagt, das Problem bei den meisten Eltern sei, dass sie das Kind in seiner Essstörung noch unterstützen. „Man ist als Mutter froh, wenn die Tochter isst. Wenn sie also nur noch fettreduzierte Speisen mag, rennt man als Mutter los und kauft Produkte mit 0,1 Prozent Fettanteil. Und das alles nur, damit sie überhaupt irgendetwas zu sich nimmt.“

Gedankenwelt dreht sich nur noch ums Essen

Magersucht gehört laut Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) zu den häufigsten psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen. In Bayern ist die Zahl der Mädchen und Frauen zwischen 15 bis 25, die wegen Magersucht im Krankenhaus behandelt wurden, von 2005 bis 2015 von 426 auf 686 gestiegen. Die Zahl der Behandlungsfälle bei unter 15-jährigen Mädchen hat sich von 135 auf 265 fast verdoppelt. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn viele Fälle werden ambulant versorgt“, so Huml.

„Ein magersüchtiges Kind bringt die Familie völlig durcheinander“, berichtet die betroffene Mutter. Die Zeit, bis die Krankheit überwunden ist, sei wahrlich nicht leicht. „Die ganze Gedankenwelt dreht sich nur noch ums Essen und ums Gewicht.“ Für Betroffene sei es ein Glücksgefühl, um so weniger sie essen. Schaffen sie es nicht, „reagieren sie schlecht gelaunt und müssen das Essen irgendwie abtrainieren.“

Das Problem mit dem eigenen Spiegelbild

Wenn die Krankheit fortgeschritten ist, helfe nur noch eine Therapie. „Als Mutter hat man kaum noch Chancen, an das Kind heranzukommen. Betroffene versprechen viel, halten es aber nicht, weil sie krank sind. Ihre Wahrnehmung ist völlig gestört. Sie schauen sich im Spiegel an und empfinden sich als furchtbar dick, obwohl sie erschreckend dünn sind.“ Selbst in der Klinik arbeiten Magersüchtige mit allen Tricks. „Sie trinken beispielsweise einen Liter Wasser, bevor sie gewogen werden. Die Ärzte kennen das. Die Therapeuten sind sehr streng“, erzählt die Mutter.

Je länger die Krankheit dauert, desto schwieriger sei es, wieder herauszukommen. Während der Therapie kann die Familie das Kind nur immer wieder bestärken: „Jetzt hast du es so weit geschafft. Jetzt schaffst du den Rest auch noch.“ Die Tochter der 50-Jährigen führt mittlerweile wieder ein normales Leben. Anderen gelang das nicht.

Todesfall an der Schule

Zum Beispiel einer Schülerin von Sylvia Harant. Das Mädchen war noch keine 20 Jahre alt, als sie an Magersucht starb. Harant ist seit 30 Jahren Lehrerin für Ernährung, Sport und Werken an verschiedenen Grund- und Mittelschulen am Untermain. Sie hatte schon öfter, vor allem in den 9. und 10. Klassen, mit essgestörten Schülern zu tun. Im konkreten Fall bemerkte eine Sportlehrerin, dass das Mädchen sehr schmal war. In Harants Unterricht fiel auf, dass die Schülerin das Essen auf dem Teller hin und herschob, ohne je etwas zu probieren, dass sie aber am Thema „Ernährung“ außergewöhnlich interessiert war. Trotz Therapie schaffte es die junge Frau nicht, der Krankheit zu entkommen.

Was die Lehrerin erschreckt: Zu Beginn ihrer Tätigkeit zeigten ihre Schüler die ersten pubertären Züge in der 8. Klasse. Im Teenager-Alter fingen die Mädchen an, sich mit anderen zu vergleichen. „Heute beobachten die Kinder bereits in den ersten Klassen ihr Gewicht. Im Fördersport weisen sie sich darauf hin, sie seien zu dick. Gerade, wenn ältere Geschwister da sind, wird auch schon mal der Lidschatten ausgepackt. Kleidung und Äußerlichkeiten sind ein Thema. Das lässt mich stutzen“, sagt Harant.

„Heute beobachten die Kinder schon in den ersten Klassen ihr Gewicht.“
Sylvia Harant, Lehrerin Grund- und Mittelschule

Auch viele zu dicke Kinder

Auf der anderen Seite gibt es viele zu dicke Kinder. „Wir haben eine Mischung aus beiden Extremen“, sagt die Lehrerin. Experten schätzen, jedes dritte Kind in Deutschland sei zu dick. „Im Vergleich zu übergewichtigen Kindern ist Magersucht ein relativ kleines Problem, dafür aber ein sehr ernst zu nehmendes“, bestätigt Andreas Schnebel, Vorsitzender vom Bundesfachverband Essstörungen. Magersucht sei eine gefährliche psychische Krankheit mit hoher Todesrate. Unterernährung und ständiges Erbrechen (Bulimie-Betroffene) haben vor allem für Kinder, die sich im Wachstum befinden, schwere gesundheitliche Folgen. „Essgestörte Patienten werden immer jünger. Bereits sechs- bis achtjährige Mädchen sind betroffen“, sagt Schnebel. Über den Verband tauschen sich Experten von Kliniken, Beratungsstellen und niedergelassene Ärzte regelmäßig aus. In Bayern gibt es 180 Psychosoziale Suchtberatungsstellen für Betroffene und ihre Angehörigen.

Wer ist Schuld, wenn Kinder an einer Essstörung erkranken? „Es gibt immer mehrere Gründe“, sagt Dr. Arne Bürger, stellvertretender leitender Psychologe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Würzburg. Eine Rolle spielen genetisch-biologische Faktoren: Mädchen sind häufiger betroffen als Jungen. Bei eineiigen Zwillingen liegt das Risiko bei 50 bis 52 Prozent, bei zweieiigen Zwillingen nur bei fünf bis 15 Prozent, dass das zweite Kind erkrankt, wenn das erste bereits an einer Essstörung leidet. Gibt es innerhalb der Familie eine Depression, Zwangs- Angst- oder Essstörung, ist das Risiko ebenfalls erhöht.

> Magersucht und Therapie: Wann die Chance auf Heilung am größten ist. (Interview mit Dr. Arne Bürger)

Wann die Chance auf Heilung am größten ist       -  _
Foto: Jörg Meinhardt

Geringes Selbstbewusstsein als Auslöser

Anorexie tritt meist in den höheren sozialen Schichten (oft am Gymnasium) auf. Es gibt eine starke Werte- und Normorientierung innerhalb der Familie. „Die Leistungsorientierung und der Perfektionismus übertragen sich auf die eigene Körperwahrnehmung. Ich bin etwas wert, weil ich etwas leiste“, sagt Bürger. Dazu kommen die Persönlichkeit des Jugendlichen sowie soziokulturelle Faktoren (Schönheitsideal in der Gesellschaft, in den Medien, in sozialen Netzwerken).

Es sei kein Problem, die Fernsehsendung „Germanys Next Topmodel“ zu schauen, so der Psychologe. Aber man sollte dies gemeinsam tun und darüber sprechen: „Ist es realistisch, so auszusehen? Wer sieht in deiner Schule so aus? Haben Models mehr Freunde oder sind sie sympathischer?“ Allen Essstörungen liegt ein geringes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zugrunde, sind sich die Experten einig.

Ist jemand erst erkrankt, können meist nur noch Therapeuten helfen. Die Mutter, deren Tochter an Magersucht litt, sagt: „Das Kind muss wieder lernen, sich selbst zu akzeptieren, sich selbst richtig wahrzunehmen. Es muss sich wieder bewusst werden, wie wertvoll es ist. Und es muss es selbst wollen. Wenn der Wille nicht da ist, wird es schwierig.“

 
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Kommentare
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  • S. T.
    Liebe MainPost- und ihr seid mit dabei.... oder stolzieren bei Eurem merkwürdigen Frauen-Modelwettbewerb nicht sehr schlanke, bis dünne Mädels über den Laufsteg?????
    Lasst es.
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  • E. V.
    Sehr richtig. Und bei der GNTM Kandidatin aus dem Landkreis (die ja sogar aus dem eigenen Wettbewerb entstammt) wurde noch mal sehr intensiv berichtet, als wäre es eine tolle Leistung sich so zur Schau zu stellen.
    Was für eine Heuchelei der Redaktion!
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