
In der medizinischen Forschung wird immer noch der "Durchschnittsmensch" betrachtet, der in der Regel männlich ist. Die Forschungslage zeige aber eindeutig, dass es Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, sagt Prof. Dr. Marie-Christine Dabauvalle. Und diese Unterschiede können sich auf Entstehung, Diagnose, Verlauf und Behandlung von Krankheiten auswirken.
"Leider werden diese geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Medizin noch zu wenig beachtet", sagt Dabauvalle, Zell- und Entwicklungsbiologin am Biozentrum der Universität in Würzburg.
Warum ist das so? Worin unterscheiden sich Frauen und Männer, wenn sie krank sind? Wie könnte eine geschlechtersensible Medizin aussehen?
Prof. Dr. Marie-Christine Dabauvalle: Lange galt die Praxis, dass medizinische Studien vor allem an Männern durchgeführt wurden und die Ergebnisse anschließend auf beide Geschlechter übertragen wurden. Der Mann war der Standard. Dazu trug auch der Contergan-Skandal der 1960er Jahre bei. Zahlreiche Frauen, die während ihrer Schwangerschaft das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan eingenommen hatten, brachten Kinder mit Fehlbildungen zur Welt. Daraufhin wurden Frauen konsequent von klinischen Medikamentenstudien ausgeschlossen.
Dabauvalle: In den 1990er Jahren wurden Berichte über geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wirkung von Medikamenten, wie zum Beispiel Aspirin, bekannt. In den USA schreibt das Gesetz seit 1994 vor, dass bei der Erforschung von Medikamenten separate Analysen nach Geschlecht durchgeführt und Frauen in klinische Studien einbezogen werden müssen. In Deutschland wurde diese Verpflichtung erst zehn Jahre später im Jahr 2004 eingeführt.
Dabauvalle: Herzinfarkte und andere Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden lange Zeit als typische Männerkrankheiten angesehen. Es ist wahr, dass Frauen seltener von Herzinfarkten betroffen sind als Männer, aber sie sterben häufiger daran. Das liegt auch daran, dass Frauen andere Symptome zeigen und ein Herzinfarkt zu spät erkannt wird. Daher ist es von großer Bedeutung, dass sich Ärztinnen und Ärzte mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden bei Krankheiten auseinandersetzen. Die Struktur des Herzens ist zum Beispiel bei Frauen anders. Frauenherzen haben weniger Bindegewebe und dafür mehr Muskeln.
Dabauvalle: Frauen leiden häufiger unter Nebenwirkungen von Medikamenten als Männern. Die Dosierung der Arzneimittel ist meist nicht optimal auf die Bedürfnisse von Frauen abgestimmt. In den USA ist es gesetzlich vorgeschrieben, geschlechtsspezifische Analysen bei der Medikamentenforschung durchzuführen. Die Zulassung neuer Pharmaka erfolgt auch für Deutschland über die europäische Zulassungsbehörde EMA. Auf europäischer Ebene gibt es nur vage Formulierungen bezüglich geschlechtsspezifischer Analysen und noch keine konkreten Richtlinien.
Dabauvalle: Stoffwechsel und Verdauung sind bei Männern und Frauen anders: Männer bauen Medikamente schneller ab. Aufgrund der Größe und des Körperbaus haben Männer zudem ein größeres Blutvolumen und eine stärkere Durchblutung der Organe. Diese Faktoren können ebenfalls die Wirkspiegel von Arzneimitteln beeinflussen.
Dabauvalle: Hormonschwankungen im weiblichen Zyklus können sich auf die Gesundheit von Frauen auswirken, genau wie die Prämenopause und die Menopause. Dennoch zeigen Studien, dass Frauen von Geburt an bis ins hohe Alter eine höhere Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten haben als Männer. Dies liegt an ihrer genetischen Ausstattung, die für die Funktion des Immunsystems von Bedeutung sind.
Dabauvalle: Frauen und Männer unterscheiden sich sehr in ihrem Lebensstil. Frauen gehen eher zu Vorsorgeuntersuchungen, sie kümmern sich mehr um ihre Gesundheit, sie essen gesünder, sie rauchen weniger und sie trinken weniger Alkohol.
Dabauvalle: Noch ist die Geschlechtermedizin in Lehre und Forschung nur sehr punktuell integriert. Die Berliner Charité war lange die einzige medizinische Fakultät in Deutschland mit einem Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. Jetzt folgen andere Universitäten wie Magdeburg und Bielefeld. Laut Koalitionsvertrag der Bundesregierung soll ab dem Jahr 2025 eine neue Approbationsordnung eingeführt werden, die geschlechtsspezifische Unterschiede in den Lehrplänen des Medizinstudiums berücksichtigt. Gendermedizin gewinnt also an Bedeutung und hat das Potenzial, die Gesundheitsversorgung für alle zu verbessern. Wir sprechen von einer personalisierten Medizin à la carte. Gendermedizin wird dann nicht mehr ein Nischenthema sein, sondern ein wachsender Wissenschaftsbereich.