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Estenfeld
Vier Schwestern suchen Grab des gefallenen Onkels
Vier Schwestern aus dem Landkreis Würzburg reisen zu einem Soldatenfriedhof in Frankreich. Warum tun sie das? Eine Geschichte über Heimat, Trauer und Verschweigen.
Vier Schwestern und eine Nichte mit dem Bild des gefallenen Johann Wittgruber (von links): Gertie Klafke, Hilde God, Helga Schwing, Martina Ulmer. Hinten: Inge Kaiser-Strieder.
Foto: Patty Varasano | Vier Schwestern und eine Nichte mit dem Bild des gefallenen Johann Wittgruber (von links): Gertie Klafke, Hilde God, Helga Schwing, Martina Ulmer. Hinten: Inge Kaiser-Strieder.
Manuela Göbel
 |  aktualisiert: 15.07.2024 08:58 Uhr

"Er war ein schöner Mann", sagt Kaiser-Strieder und erinnert sich an den letzten Besuch von Onkel Wittgruber. "Weihnachten 1944 hat er noch mit uns gefeiert", erzählt sie. Drei Wochen später fiel der 24-Jährige in Frankreich. "Aber der Bruder unserer Mutter war immer gegenwärtig", erinnert sich ihre Schwester Hilde God.

Zum einen durch die Fotos, die im Haus standen. Zum anderen durch die Erzählungen von Mutter und Großmutter, die viel vom "Janibatschi", so sein Kosename, erzählt haben. Die deutschstämmige Familie lebte bis zum Zweiten Weltkrieg in einem Weinort in den Karpaten nahe dem damaligen Pressburg, dem heutigen Bratislava in der Slowakei. Nach dem Krieg kam die vertriebene Familie nach Estenfeld und siedelte sich hier an. 

Um auf den Spuren des Onkels zu gehen, reisten die vier Schwestern in diesem Sommer mit dem Zug über Straßburg, Metz, Nancy nach Andilly in Lothringen. Dass eine von ihnen auf den Rollstuhl angewiesen ist und keine von ihnen französisch spricht, machte die Suche nicht einfacher.

Die vier Schwestern auf der Reise am Bahnhof in Straßburg. 
Foto: Gertie Klafke | Die vier Schwestern auf der Reise am Bahnhof in Straßburg. 

Trotzdem - oder vielleicht gerade deshalb - war es ein besonderes Erlebnis. "Ich würde diese Woche nie für eine Kreuzfahrt hergeben", sagt die 79 Jahre alte Inge Kaiser-Strieder. Ihre drei Schwestern nicken. Treffpunkt ist bei Gertie Klafke, im Elternhaus der Geschwister in Estenfeld. Bei Kaffee und Kuchen erzählen die Vier, wie es zu der Reise kam.      

"Das Ziel war das Grab", erklärt Helga Schwing. Das war gar nicht so einfach zu erreichen. Als die Frauen endlich vor dem Friedhof standen, war dieser wegen Prozessionsspinner-Befalls geschlossen. Zum Glück fanden die Frauen einen Gärtner, der ihnen trotzdem das Tor auf schloss. 33 123 deutschen Gefallenen wird in Andilly, dem größten deutschenSoldatenfriedhof in Frankreich, gedacht. 5000 Kreuze mit je drei Namen vorne und drei hinten stehen dort in Reih und Glied. Doch wo war Onkel Johann?

       

Der Gedenkstein von Johann Wittgruber in Andilly. 5000 ähnlicher Gedenksteine stehen auf dem Soldatenfriedhof.
Foto: Gertie Klaffke | Der Gedenkstein von Johann Wittgruber in Andilly. 5000 ähnlicher Gedenksteine stehen auf dem Soldatenfriedhof.

Wo der Gedenkstein von Johann Wittgruber steht, bekamen die Schwestern dann über die Online-Suche des Volksbundes heraus. "Dort beteten wir und saßen im Gras in der Sonne", erzählt Gertie Klafke. Zum Abschied ließen sie Steine vom Estenfelder Familiengrab auf dem Gedenkstein ihres Onkel Johanns. Die stillen Minuten in Andilly haben ihnen gut getan.   

Zum Nachdenken brachte sie das Wort "Rottenführer", das neben dem Namen des Onkels auf dem Gedenkstein steht. Er war Mitglied der Waffen-SS. Zu diesem militärischen Verband der nationalsozialistischen Parteitruppe SS gehörten bis zu 900 000 Angehörige der Wehrmacht. Die Waffen-SS beging Massenexekutionen von Zivilisten, Folterung und Ermordung von Gefangenen und ethnische Säuberungen. Hatte der in der Familie so hoch geschätzte und tief betrauerte "Janibatschi" damit etwas zu tun?     

Laut des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. kenne die Geschichte nicht nur Schwarz und Weiß. "Viele, die zu Opfern geworden sind, waren vormals Täter", sagt die Pressesprecherin des Vereins, Tempel-Bornett, und erinnert an viele "gebrochene Biografien". Und: Um jeden Menschen dürfe man trauern und weinen. "Trauern heißt auch nicht gleichzeitig, dass die Schuld, die jemand aufgeladen hat, reingewaschen wird." Wichtig sei aber, dass die Kriegsschuld vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, "das darf man nicht vergessen", heißt es von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge.

"Wir sind nicht die Generation, die nachgefragt hat."
Hilde God
Gertie Klafke, Hilde God, Helga Schwing und Inge Kaiser-Strieder auf dem Soldatenfriedhof in Frankreich.
Foto: Gertie Klafke | Gertie Klafke, Hilde God, Helga Schwing und Inge Kaiser-Strieder auf dem Soldatenfriedhof in Frankreich.

"Wir wissen darüber nichts", sagt Hilde God bei der Kaffeerunde in Estenfeld. Es habe geheißen, der Johann sei "so blond, so blauäugig, so deutsch gewesen, der musste zur SS". Mehr hätten Eltern und Großeltern nicht erzählt. "Ihr habt aber auch nicht gefragt", vermutet Martina Ullmer. Die Tochter von Hilde God begleitete Mutter und Tanten auf der Reise. Die 76 Jahre alte Hilde God nickt: "Wir sind nicht die Generation, die nachgefragt hat." Genauso wie im Elternhaus sei auch in der Schule in den 50er Jahren über die Nazizeit geschwiegen worden.      

Gertie Klafke spricht noch ein anderes Detail ihrer Kindheit an: "Wir waren Flüchtlinge und wir waren evangelisch." In Estenfeld waren sie die "Fremden". Die in der Kindheit erlebte Ausgrenzung schweißte die Vier zusammen - bis heute. Obwohl sich alle längst in Estenfeld und Umgebung ein Zuhause aufgebaut haben, ist Heimat für die ehemaligen "Flüchtlingskinder" etwas Spezielles. 

Was vielleicht auch einer der Gründe ist, warum die Schwestern sich immer wieder auf die Suche nach ihren Wurzeln machen. Denn die Reise zum Soldatenfriedhof von Andilly war nicht ihre erste in die Vergangenheit. Davor sind sie den Fluchtweg ihrer Mutter nachgewandert und haben Bratislava besucht, wo Inge, Helga und Hilde geboren sind. Auch 2020 soll es wieder gemeinsam losgehen.  

Volkstrauertag
Am Sonntag ist Volkstrauertag. Der staatliche Gedenktag gehört zu den sogenannten stillen Tagen, das bedeutet in Bayern ein Tanzverbot, von zwei Uhr morgens bis Mitternacht darf nicht fröhlich gefeiert werden. Begangen wird der Volkstrauertag seit 1952 zwei Sonntage vor dem ersten Adventssonntag. Er erinnert an die Millionen Opfer zweier Weltkriege sowie an alle anderen Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terrorismus. Die zentrale Gedenkstunde zum Volkstrauertag findet im Plenarsaal des Deutschen Bundestages in Berlin statt. 
 
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