
Ein Kuriosum, das im Opernbetrieb gar nicht so selten vorkommt: Auf der Bühne verkörpert eine Person stumm eine Figur, die Stimme aber kommt von der Seite. Ein Notbehelf für den Fall, dass ein Sänger oder eine Sängerin indisponiert ist, der Ersatz mit der Regie aber zu wenig vertraut, um die Figur auch szenisch zu spielen.
Am Sonntag griff das Mainfranken Theater für die Premiere von Luigi Cherubinis "Medea" in der Blauen Halle zu diesem Kniff: Ilia Papandreou, vorgesehen für die Titelrolle, war während der Endproben erkrankt, Claire de Monteil sprang ein. Sie hatte die Partie zwar schon im Januar an der Mailänder Scala gesungen, allerdings in französischer Sprache. In Würzburg aber wird die italienische Übersetzung gespielt – die Version, die einst auch die Callas sang.
Also spielte Regisseurin Agnessa Nefjodov die Medea, Claire de Monteil sang – vorerst – im Graben. Und bescherte dem Würzburger Publikum einen sängerischen Glücksmoment nach dem anderen. Die junge französische Sopranistin beherrscht das gesamte Spektrum von klarster Diktion über wunderbar tragendes Piano bis hin zu den ganz großen dramatischen Ausbrüchen. Und das alles mit einer Wärme in der Stimme, die ihre Figur, die ja schließlich im Rachewahn die eigenen Kinder tötet, nie zum Monster werden lässt. Anrührend auch Vero Miller, die als Neris bis zuletzt versucht, das Unaussprechliche abzuwenden.
Atemberaubende Effekte, ganz ohne die klassische Tonsprache zu verlassen
Luigi Cherubini (1760-1842) genoss bei Kollegen wie Beethoven und Brahms größte Hochachtung. Hier wird klar, warum: Es gelingen ihm, ganz ohne die klassische Tonsprache zu verlassen, tiefste Emotionen und atemberaubende Effekte. Etwa Jasons innere Zerrissenheit (mit strahlendem Heldentimbre: Brad Cooper) oder Medeas Ringen mit sich selbst. Besonders beeindruckend ist die von Medea ausgelöste Massenpsychose, bei der schattenhafte Gestalten den sterilen Reinraum besudeln, in dem Agnessa Nefjodov das Drama spielen lässt (Bühne: Volker Thiele). Wie immer sängerisch und spielerisch herausragend: Chor und Extrachor.

Das seltsame Voodoo-Gestell, das die Titelfigur mit sich herumschleppt, hätte es gar nicht gebraucht: Ihre Ausstrahlung ist übermächtig. Interessanter sind die Details. Etwa, dass der häuslich gewordene Jason zur Hochzeit die Springerstiefel gegen bequeme Sandalen tauscht. Oder dass Glauke, über ihren Brautschleier verwoben mit dem Goldenen Vlies, Medeas Übergriffigkeit hilflos ausgeliefert ist, während Jason wegschaut. Milena Arsovska ist als Glauke das, was der Kanarienvogel im Bergbau ist: Hört sie mit ihrem hellen Sopran auf zu singen, droht Unheil.
Wenn die ganze Macht des Schicksals körperlich spürbar wird
Nefjodovs Würzburger Inszenierung von "Eugen Onegin" hatte von der lebensechten Zeichnung der Charaktere gelebt, ihre "Medea" ist eher die Versuchsanordnung eines Experiments, das nur schiefgehen kann. Über dem Hof Kreons (mit großer, klarer Stimme, ein wenig fest im Vibrato: Gustavo Müller) hängt von Anfang an der Mehltau der Resignation.

Das Resultat ist interessanterweise alles andere als freudlos: Die Affekte auf der Bühne sind hochspannend, und das Philharmonische Orchester unter Enrico Calesso spielt nach kleinen anfänglichen Wacklern wunderbar federnd und transparent und bei Bedarf so unerbittlich wuchtig, dass die ganze Macht des Schicksals körperlich spürbar wird.
Großer, langer Applaus für eine Entdeckung, die das Repertoire – im Gegensatz zu manch anderer Ausgrabung vermeintlich zu Unrecht vergessener Meisterwerke – wirklich bereichert.
Weitere Vorstellungen: 10., 13., 27. Oktober, 10. November, 10., 28. Dezember, 12. Januar. Karten: Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de