Hiltrud Kempf hat fünf harte Tage und Nächte vor sich. Und doch freut sich die Pflegerin im Seniorenstift des Würzburger Juliusspitals jedes Jahr aufs Neue auf die Reise mit „ihren“ Senioren.
„Fünf Tage Urlaub vom Altenheim“ ist ein ungewöhnliches Angebot. Es kommt Menschen zugute, bei denen Urlaub gezwungenermaßen oft kein Thema mehr ist: Die Heimbewohner leiden an altersgemäßen Gebrechen, sind teilweise dement, sitzen im Rollstuhl – da trauen sich viele aus den vier Wänden kaum noch heraus.
Für manche ist die Fahrt im Rollstuhl den Gang entlang schon das Äußerste an Abwechslung im Alltag. Fünf Tage mit dem Bus unterwegs bedeutet für einige so etwas wie ihr letztes großes Abenteuer: „Manche sind vorher tagelang mit Kofferpacken beschäftigt,“ sagt Kempf lächelnd.
„Eine alte Dame war extra beim Friseur“, ergänzt Isabella Hudala-Honka. „Die blühen richtig auf, sind fröhlich, essen wieder selbst. Und sie reden hinterher noch Wochen und Monate darüber,“ freut sich Pflegedienstleiter Wolfgang Neubauer. „Manche fragen gleich bei der Rückkehr: Kann ich nächstes Jahr wieder mit?“
Manche Heimbewohner haben zunächst Bedenken angesichts der eigenen Schwächen: So eine fünftägige Busfahrt und das Übernachten in fremder Umgebung ist keine Kleinigkeit, wenn man auf Pflege angewiesen ist. Da überlegt man zweimal, bevor man zusagt.
Die Hundertfünfjährige auf der Walhalla
„Manche waren noch nie in ihrem langen Leben in Urlaub,“ weiß eine der Pflegekräfte. Auch bei ihnen wächst in den Tagen zuvor – trotz 14-Stunden-Tag und abwechselnder Nachtwachen – die Vorfreude: „Es macht auch nach den vielen Jahren immer wieder Spaß zu erleben, wie die Teilnehmer aufblühen, sich plötzlich erinnern und wieder mehr Lebensfreude zeigen.“
Auch für die Pflegenden ist es Urlaub vom Alltag – wenn auch ein arbeitsintensiver: Sie können sich für einzelne Senioren mehr Zeit nehmen, haben Freude an deren wachsendem Interesse und Lebensmut. Eine der Pflegekräfte verschob sogar die Feier ihrer Silberhochzeit, um teilnehmen zu können.
Als die Würzburger Stiftung vor 25 Jahren erstmals „Urlaub vom Altenheim“ anbot, gab es Bedenken und Kritik. „Das war Neuland,“ erinnert sich Heimleiter Clemens Halbig. „Manche haben sich darüber mokiert, was wir uns einbilden, mit 80-Jährigen fortfahren zu wollen.“
Inzwischen ist das Projekt etabliert, auch wenn es nicht viele Senioreneinrichtungen gibt, die ein solches Projekt personell und finanziell stemmen können. Die Reise im vorigen Jahr zur Walhalla bei Regensburg – an der sogar die 105-jährige Rita Hartig teilnahm – sorgte in ganz Bayern für Aufmerksamkeit.
Die Stiftung übernimmt den Großteil der Reisekosten – und Oberpflegamtsdirektor Walter Herberth, der Chef im Juliusspital, reist jedes Jahr an, um einen Tag mit den Reisenden zu verbringen. Im Jubiläumsjahr nehmen 21 Senioren und 13 Betreuer an der Fahrt teil. Nach Baden-Baden wollen sie, zum Rheinfall bei Schaffhausen, wo eine Bootsfahrt geplant ist, eine zweite in Straßburg und eine Rundfahrt durch den Schwarzwald mit Besichtigung der größten Kuckucksuhr in Hornberg.
Das erfordert umfangreiche Vorbereitung, das Erkunden von Reisezielen und Übernachtungsmöglichkeiten, die auf Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen eingerichtet sind. „Früher sind wir mit einem Standard-Reisebus gefahren,“ erinnert sich Neubauer. „Da wurden die Teilnehmer teilweise mühsam rein- und rausgetragen, manchmal viermal pro Tag.“
Inzwischen kann die Stiftung auf ein Bus-Unternehmen aus dem Bayerischen Wald zurückgreifen, dessen Fahrzeug behindertengerecht mit einem Lifter ausgerüstet ist – der bei jedem Bushalt für zusätzliches Aufsehen sorgt. „Natürlich müssen Sie schon vorher erkunden: Wo sind Behinderten-Toiletten? Wo komme ich mit Rollstuhl nicht hin?“ Für Halbig und sein Team beginnt die Vorbereitung im Oktober zuvor. Im März fährt er alle Punkte ab, vier Wochen vor dem Start erfolgt die Feinjustierung.
Tränen und Torte am Titisee
Für viele Senioren sei es „die Zeit des Erwachens“, sagt Kempf: „Manche, die auf dem Wohnbereich das Essen eingegeben bekommen, essen wieder selbst und bestellen selbst. Sie sind fröhlicher, unterhalten sich wieder, während sie sonst meist stumm dasaßen.“
Die Pflegerin erinnert sich an eine völlig in sich gekehrte Seniorin, die bei einer früheren Reise in Hindelang plötzlich auf einen Hang deutete und Mitreisenden erklärte: „Da haben meine Töchter das Skifahren gelernt“. Und Halbig weiß noch, wie am Titisee einer Bewohnerin die Tränen kamen: „Hier saß ich schon mit meinem Mann und habe Schwarzwälder-Kirschtorte gegessen.“ Halbig sagt: „Solche Momente entschädigen für vieles.“ Natürlich weiß er: So unverhofft, wie glückliche Erinnerungen etwa bei dementen Menschen kommen, so schnell geraten sie wieder in Vergessenheit. „Aber darauf kommt es nicht an.“
Acht Schüler eines einheimischen Gymnasiums helfen im Rahmen eines Sozialpraktikums bei der Betreuung und beim Schieben der Rollstühle. „Unterwegs werden wir immer wieder von Passanten angesprochen,“ sagt Hiltrud Kempf. „Wildfremde Menschen halten Türen auf, wollen Näheres zu unserer Reise wissen und haben keine Berührungsängste, wenn Menschen im Rollstuhl mit im Speisesaal sitzen.“ Einmal lief der Reisegruppe zufällig Handball-Weltmeister Heiner Brand über den Weg. Der ehemalige Bundestrainer mit dem markanten Walross-Bart hatte keinerlei Starallüren, sondern stellte sich bereitwillig zum Foto mit den Senioren.
Die Pflegerin Kempf hat aber auch schon erlebt, wie alte Menschen im Hotel ausgegrenzt wurden, in einem separaten Raum frühstücken mussten, weil sich andere Gäste gestört fühlten von Dementen und Rollstuhlfahrern. Da kann die Frau mit dem strahlenden Lächeln knallhart werden: „Da muss man auch mal Kontra geben, wenn einer blöd quatscht.“
Nach einer dieser alljährlichen Reisen bieten die Erlebnisse oft noch im Seniorenstift ein halbes Jahr Gesprächsstoff zwischen den Teilnehmern. „Das ist für beide Seiten etwas Besonderes“, sagt Halbig. Es entstehe ein anderes Verhältnis zueinander „von dem die Arbeit hier profitiert“.
Wenn nach fünf Tagen alle wieder zu Hause sind, muss er noch den Bus zurückbringen in den Bayerischen Wald. Das Steuer gibt der Heimleiter auf der fünftägigen Fahrt nicht aus der Hand. Er fährt den Bus selbst.