Ich überlege, ob ich ein Köfferle mitnehme“, hatte Rita Hartig vorher gesagt und sinnend ihre kleine Hand ans Kinn gelegt. Dann winkte die alte Dame im Rollstuhl lächelnd ab: „Für fünf Tage brauche ich ja nicht viel“.
Zuerst hatte sie Bedenken: So ein Abenteuer wie Busfahrt und fünf Tage „Urlaub vom Altenheim“ ist ja nicht selbstverständlich, wenn man 105 Jahre alt und auf Pflege angewiesen ist. Da überlegt man – selbst mit dem Selbstvertrauen der rüstigen Rita Hartig – zweimal, bevor man die vertraute Umgebung verlässt.
Aber Clemens Halbig, Leiter des Seniorenstifts im Juliusspital, weiß, was er der lebensfrohen Seniorin und ihren Mitreisenden zumuten kann: Sie sitzt nach einem Sturz zwar im Rollstuhl, ist aber hellwach und noch immer wissbegierig. Es locken der Bayerische Wald und die Glasbläser, eine Fahrt auf der Donau – und die Walhalla.
Den Ruhmestempel hatte Rita Hartig als junges Mädchen gesehen – „so 1920 oder 1930 herum“, erinnert sie sich. Über 80 Jahre später fragt sie den verblüfften Leiter des Altenheimes: „Da geht es vom Parkplatz steil rauf, oder?“ Halbig beruhigt sie: „Wir haben eine Sondergenehmigung bekommen, bis rauf zu fahren.“ Da legen sich die Gesichtszüge der 105-Jährigen in viele kleine Lachfältchen der Vorfreude – geschätzt eine für jedes Lebensjahr.
Mit ihr sind 18 weitere pflegebedürftige Bewohner unterwegs, die jahrein, jahraus kaum etwas anderes sehen als den Flur zwischen Zimmer und Speisesaal. Darunter sind auch Mitreisende, die wegen Demenz in einer beschützten Station untergebracht sind.
1992 hatte das Juliusspital mit dem ersten derartigen Ausflug bundesweit für Aufsehen gesorgt. Er war beispielgebend für andere Einrichtungen. Nicht viele Pflegeeinrichtungen sind in der Lage, so ein Angebot zu stemmen. Manche argumentieren mit Sicherheitsbedenken und personellen Engpässen. Und die Reise ist aufwendig, finanziell ohne Spenden und Stiftungsgelder für viele Heimbewohner gar nicht möglich.
Vor allem nicht ohne engagierte Betreuer. Zwölf Pflegekräfte sind fünf Tage rund um die Uhr für Bewohner da. Die reagieren verunsichert, wenn sie die gewohnte Umgebung hinter sich lassen. Doch das Hotel ist behindertengerecht. Der Reisebus ist mit einem Lift ausgestattet, damit auch Rollstuhlfahrer an Bord kommen können. Gesteuert wird er von Clemens Halbig, dem Chef des Seniorenstifts.
„Und natürlich müssen Sie schon vorher erkunden: Wo sind Behinderten-Toiletten? Wo komme ich mit Rollstuhl nicht hin?“ Für Halbig und sein Team beginnt die Vorbereitung im Oktober zuvor. Im März fährt er alle Punkte ab, vier Wochen vor dem Start erfolgt die Feinjustierung.
Diesmal kamen in Waldsassen die Zehntklässler des dortigen Gymnasiums dazu, bei einem Sozialpraktikum traf Jung auf Alt. Die Schüler betreuten die Altenheim-Bewohner, halfen beim Rollstuhl-Schieben.
In Engelhartszell gab es eine Führung durch die Klosterkirche und einen Gottesdienst mit Pfarrer Bernhard Stühler. Es ist Tradition im Juliusspital, dass Stiftungsleiter Walter Herberth, Geschäftsbereichsleiter Franz-Josef Steingasser und Pfarrer Stühler die Senioren besuchen und mit ihnen Gottesdienst feiern.
Hinterher ist die Reise oft noch mehr als ein halbes Jahr Gesprächsstoff zwischen den Teilnehmern. „Das ist für beide Seiten etwas Besonderes,“ sagt der Organisator. Es entstehe ein anderes Verhältnis zueinander, „von dem die Arbeit hier profitiert.“
Für manche ist es der erste Urlaub überhaupt. Für andere eine Reise in die mehr oder minder vergessene eigene Vergangenheit. Halbig erinnert sich an eine frühere Reise an den Titisee: Einer Bewohnerin kamen plötzlich die Tränen. „Hier saß ich schon mit meinem Mann und habe Schwarzwälder-Kirschtorte gegessen,“ erinnerte sie sich plötzlich. Halbig schluckt, als er das erzählt. „Die Momente entschädigen für vieles,“ sagt er. So unverhofft, wie glückliche Erinnerungen etwa bei dementen Menschen kommen, so schnell geraten sie wieder in Vergessenheit. „Aber darauf kommt es nicht an.“
Die frühere Lehrerin Rita Hartig hat nach dieser Reise wieder Gesprächsstoff für die Besuche von ehemaligen Schülern .Sie ist die Älteste auf der Fahrt, aber was heißt das schon? „Bis 97 bin ich noch selbst Auto gefahren,“ sagt sie. Selbstverständlich unfallfrei.
Mit leiser Ironie hatte die 105-Jährige vor Beginn gesagt: „Diese Reise wird wohl meine letzte sein, außer der, wo ich dann gleich ins Jenseits aufbreche.“ An der Walhalla war das vergessen: Staunend blickte sie zu den weißen Büsten empor, erinnerte sich an ihren Besuch vor über 80 Jahren und befand: „Sind wohl doch einige neue Köpfe dazugekommen.“
Über Rita Hartig und ihre Reise berichtet am Sonntag um 17.45 Uhr auch die Frankenschau im Bayerischen Fernsehen.