
Ein Buch und einen Kinofilm über "Das schweigende Klassenzimmer" gibt es schon. Nun folgt das Theaterstück. Am Mainfranken Theater Würzburg entsteht gerade die erste Bühnenversion einer unerhörten Geschichte: Wie eine Schulklasse in der DDR-Provinz mit einer ebenso kurzen wie mutigen Aktion das gesamte SED-Regime herausforderte.
29. Oktober 1956, Storkow, südöstlich von Berlin: An der Kurt-Scheffel-Oberschule ist Unerhörtes passiert. Die Abiturklasse hat sich im Geschichtsunterricht fünf Schweigeminuten lang mit den Opfern des niedergeschlagenen Volksaufstands in Ungarn solidarisiert. Der SED-Apparat läuft heiß. Man will unbedingt die Rädelsführer ermitteln, demonstrativ bestrafen und dann die sozialistische Ordnung wiederherstellen.
Sogar der Minister rückt an und brüllt die Klasse eine Stunde lang nieder
Sogar Volksbildungsminister Fritz Lange rückt an und brüllt die Schülerinnen und Schüler eine Stunde lang nieder. Alles ohne Erfolg. Selbst die Drohung, die gesamte Klasse werde vom Abitur ausgeschlossen, zieht nicht. Die Klasse schweigt weiter, auch die Mitglieder, die dem System näherstehen oder Eltern in Parteifunktionen haben. Niemand verpfeift irgendwen.
Also werden alle 20 Schülerinnen und Schüler der Schule verwiesen. Ihre Zukunft in der DDR ist mehr als ungewiss. Als erster flieht Dietrich Garstka an Weihnachten nach West-Berlin, 15 weitere folgen ihm innerhalb weniger Tage. Nur vier Schülerinnen entscheiden sich, in der DDR zu bleiben. Auch sie geben trotz des immensen Drucks keine Namen preis.
Barbara Bily, geboren 1982 in Leipzig und seit 2021 Schauspieldirektorin am Mainfranken Theater, hatte sich schon vor ihrer Würzburger Zeit mit dem Stoff beschäftigt und beim Verlag um die Uraufführungsrechte bemüht. Nun hat das Mainfranken Theater sie bekommen. Gerade erarbeitet das Ensemble mit Regisseurin Anna Stiepani die Bühnenversion. Das Stück wird Spielszenen mit dokumentarischer Erzählung verzahnen. Grundlage ist das 2007 erschienene Buch "Das schweigende Klassenzimmer" von Dietrich Garstka, damals einer der Oberschüler. Untertitel: "Eine wahre Geschichte über Mut, Zusammenhalt und den Kalten Krieg". Uraufführung ist am 22. Februar.

Dietrich Garstka starb 2018, sein Klassenkamerad und langjähriger Freund Karsten Köhler ist als letzter der Klasse weiter als Zeitzeuge auf Tour. Der 85-Jährige erzählt im Auftrag des Instituts für Deutschlandforschung der Ruhr-Universität Bochum und der Bundesstiftung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in öffentlichen Veranstaltungen, wie alles war.
Zum 110. Mal tat er dies jetzt - in Würzburg, auf der Probebühne 3 des Mainfranken Theaters in der Oeggstraße. Regieteam, Theaterpädagogik und Mitglieder des Ensembles sind da, das seine Geschichte auf der Bühne darstellen wird. Man merkt, dass Köhler sie schon oft erzählt hat. Er hat alle Daten, alle Namen genau im Kopf. Auch die meisten Fragen sind ihm schon gestellt worden.

Wie genau ist damals alles abgelaufen? Wie hat die Klasse diesen außergewöhnlichen Zusammenhalt geschafft?
Karsten Köhler schildert eine frühe DDR, in der der totalitäre Apparat schon ziemlich effektiv funktionierte. Ein Großteil vor allem der ländlichen Bevölkerung sei uninformiert und gleichgültig gewesen: "Wer nie den Mund aufgemacht hat, der hatte Ruhe." Er selbst habe die Oberschule in der 9. Klasse "stolz wie Bolle" angetreten: "Es gab viele Dinge, die wir positiv gesehen haben. Etwa, dass es so viele Sportmöglichkeiten gab."
Aber schon bald änderte sich seine Haltung. Karsten Köhler geriet bei einem Berlin-Besuch 1953 auf der damaligen Stalin-Allee in die Auseinandersetzung zwischen Staatsmacht und Protestierern und erlebte, wie Panzer wahllos in die Menge fuhren: "Ich fragte einen Mann, was los sei. Der sagte nur: Loofen! Bis heute ertrage ich das Geräusch von Panzern nicht."
Der RIAS war die wichtigste Informationsquelle außerhalb des Ostblocks
Allmählich sei ihm und den meisten seiner Mitschüler immer klarer geworden, wie sehr der Staat das Volk belog. "Der Volksaufstand vom 17. Juni hat nie stattgefunden. Wir fühlten uns irgendwann nur noch verarscht." Karsten Köhler hatte ein kleines Radio ins Internat mitgebracht. Darauf hörten die Jungs der Vier-Mann-Stube verbotenerweise den Westsender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor). Und einer musste immer Schmiere stehen.

So auch erfuhren die Jugendlichen von den Ereignissen in Ungarn. Die (falsche) Meldung von Tod des Fußballidols Ferenc Puskás brachte das Fass zum Überlaufen. "Wir waren nur noch wütend." Spontan habe sich die Klasse auf eine Schweigeminute verständigt. Schwierig sei es hinterher geworden. So galt es auch die ins Boot zu holen, die zwar mitgemacht hatten, aber eigentlich gar nicht wussten, worum es ging: "Uns war es wichtig, dass immer Einstimmigkeit herrschte", sagt Karsten Köhler.
In Diktaturen fällt es Gemeinschaften, die unter Druck stehen, leichter, sich zu solidarisieren
Dass dies so dauerhaft gelang, fasziniert die Würzburger Theaterleute am meisten. Tom Klenk, der Lehrer, Schuldirektor und auch den cholerischen Minister spielen wird, will wissen, ob man daraus "eine Art Elixier" extrahieren könnte. Für heute, das Zeitalter der Individualisierung? Karsten Köhler macht da wenig Hoffnung: "Bei uns gab es den Zusammenhalt, weil es einfach notwendig war. In Diktaturen sind Gemeinschaften, die unter Druck stehen, eher in der Lage, sowas hinzukriegen."

Wie es weiterging? Die 16 Flüchtlinge erregten im Westen einiges Aufsehen und bekamen Unterstützung von vielen Seiten. Sie wurden aus Berlin ausgeflogen und konnten 1958 als Klasse im hessischen Bensheim ihr Abitur machen. Über die Jahrzehnte fanden immer wieder Klassentreffen statt - auch mit den vier Frauen, die in der DDR geblieben waren.
Eine Regel allerdings gilt bei aller Freiheitsliebe für alle Treffen: "Wir reden nicht über Politik. Wir würden uns nur streiten."
Uraufführung am 22. Februar, 19.30 Uhr, Mainfranken Theater, Probebühne Kleines Haus. Weitere Vorstellungen: 27. Februar, 14., 15., 21., 27. März, 22. Mai. Karten: Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de oder www.mainfrankentheater.de