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MITTELSINN
Der Mittelsinner Friedrich Schorn war Hauptfeind der DDR
DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953: Hier rollt ein sowjetischer Panzer vor dem ehemaligen Reichsgericht in Leipzig. Zu den Vorkämpfern an jenem Tag zählte der gebürtige Mittelsinner Friedrich Schorn, den die Stasi gar als „Hauptfeind“ bezeichnete.
Foto: Bundesarchiv | DDR-Volksaufstand am 17. Juni 1953: Hier rollt ein sowjetischer Panzer vor dem ehemaligen Reichsgericht in Leipzig.
Von unserem Redaktionsmitglied Björn Kohlhepp
 |  aktualisiert: 03.02.2016 16:43 Uhr

Als sich am 17. Juni 1953 in der DDR das Volk gegen die Ulbricht-Regierung erhob, tat sich auch ein geborener Mittelsinner hervor: Friedrich Schorn. Der vergessene Sohn Mittelsinns war an jenem Tag Streikführer der Leunawerke. Das Chemiekombinat war mit knapp 30 000 Mitarbeitern das größte Werk in der DDR. Schorn flüchtete danach nach West-Berlin, wo die Stasi ihn, den sie intern als „Hauptfeind“ bezeichnete, mehrmals vergeblich zu entführen versuchte.

Schorn wurde zu einer Symbolfigur des Aufstandes, zu einem später gern gesehenen Zeitzeugen. Doch die Rolle, die er spielte, war äußerst undurchsichtig. Der ehemalige SS-Mann war, wie eine Historikerkommission kürzlich bestätigte, ein Doppelagent des BND-Vorläufers Organisation Gehlen und der Stasi. Laut Zentralkomiteechef Walter Ulbricht war Schorn in den Leunawerken als Stasi-Provokateur tätig.

Doch wer war dieser Mann? Karl Friedrich Schorn wurde am 16. September 1914 als Sohn des Postlers Valentin Schorn und dessen Frau Friederike, geb. Schmidt, in Mittelsinn geboren. Wo er aufwuchs, ist unbekannt. Zumindest trat der gelernte Gärtner 1933 in Bad Königshofen, wo es den Namen Schorn gibt, in die NSDAP ein.

Bis 1944 war er in der Luftwaffe, dann wurde der hagere Mann mit dem knochigen Gesicht Hauptscharführer in der Panzer-Division „Hitlerjugend“ der Waffen-SS, die im April und Juni jenes Jahres in Frankreich Massaker an Dorfbewohnern und kanadischen Kriegsgefangenen beging. Schorn wurde schwer verletzt und kam in englische Kriegsgefangenschaft in Hamburg, aus der er im Juni 1945 fliehen konnte.

Von Dezember 1945 bis Januar 1950 war er aufgrund seiner SS-Vergangenheit Insasse des inzwischen sowjetischen Speziallagers Buchenwald. Nach der Entlassung, so erzählte er einst, habe für ihn festgestanden, „dass ich gegen die Bestien des Kommunismus einen Kampf bis zum Tode führe“. Im Buch „Die verdrängte Revolution“ steht eine Menge über Schorns Rolle am 17. Juni und danach. „Schorn ist ein notorischer und unversöhnlicher Gegner der DDR und der Sowjetunion, dem jedes Mittel recht ist, und sei es mit Gewalt oder sogar Mord, der fortschrittlichen Menschheit Schaden zuzufügen“, so ein Stasi-Bericht vom 29. Januar 1954.

Schorn war es nur recht, dass er 1952 als Geheimer Mitarbeiter „Stern“ für die Stasi angeworben wurde. So konnte er als Spitzel „offiziell“ in den Westen fahren. Die Stasi habe er an der Nase herumgeführt mit gefälschten Berichten, erzählte er später. Gleichzeitig arbeitete er mit antikommunistischen Gruppierungen in West-Berlin zusammen. Anfang Februar 1953 hat die Stasi Schorn, gegen den Willen der Direktion, als Rechnungsprüfer zu den Leunawerken südlich von Halle (Saale) vermittelt, damit er leichter nach West-Berlin fahren konnte.

Wohl keine gute Idee, denn bald darauf kam der 17. Juni, und die Leuna-Arbeiter streikten. Nach eigener Aussage setzte sich Schorn an die Spitze des Protestzugs nach Merseburg, in den sich noch Bauarbeiter, Straßenbahner, Polizisten, Hausfrauen und andere Zivilisten einreihten. Öffentliche Gebäude und Büros von Stasi und SED wurden besetzt, Häftlinge befreit. In Merseburg strömten Zehntausende zusammen, von 60 000 bis 100 000 Menschen ist die Rede. Schorn wurde zum Vorsitzenden der 25-köpfigen Streikleitung des Kreises Merseburg gewählt. Am nächsten Morgen war das Werk jedoch von sowjetischen Soldaten mit Panzern besetzt, und der gebürtige Mittelsinner floh nach West-Berlin.

Ulbricht soll zwei Wochen später von Schorn gesagt haben: „Der Organisator der Provokationen war ein SS-Mann. Der SS-Mann wurde von der Staatssicherheit in die Leitung und Verwaltung vom Leuna-Werk eingesetzt, und er ist gepflegt worden, und nachdem man seit Anfang 1952 mit ihm gearbeitet hatte, hatte er alles so gut gefasst, dass er exakt am 17. Juni die Provokation organisieren konnte.“

Hat Schorn also auf Geheiß der Stasi den Streik angeführt und in ihrem Sinne gelenkt? Doch warum hätte die Stasi gewollt, dass er gegen das Regime protestiert? Wollte die Stasi ihn etwa danach als unverdächtigen Mitarbeiter im Westen installieren – oder wollte Ulbricht das so verkaufen? Es bleibt ungewiss.

„Schorn ist ein notorischer und unversöhnlicher Gegner der DDR und der Sowjetunion.“
Bericht der Stasi aus dem Jahr 1954

In West-Berlin gründete der zweifache Vater Schorn 1953 das „Komitee 17. Juni“ mit und war 1957 ebenso an der Gründung der Nachfolgeorganisation „Vereinigung 17. Juni“, die noch heute existiert, beteiligt. Die Vereinigung, deren jahrelanger Vorsitzender Schorn war, führte nicht nur eine jährliche Gedenkveranstaltung durch – sie war unter anderem auch für Flugblattaktionen und Anschläge auf die Mauer sowie auf kommunistische Einrichtungen in West-Berlin verantwortlich. Die Stasi versuchte mehrfach, Schorn zu entführen, um ihm als „Hauptfeind“ einen Schauprozess zu machen, wie sie es mit anderen leitenden Mitgliedern der Vereinigung tat.

Schorn, der in Berlin West in der Senatsverwaltung arbeitete, blieb offenbar zeitlebens ein entschiedener Gegner der SED-Diktatur, stand dabei aber auch der NPD und rechtsextremen Bewegungen nahe. In Fernsehdokumentationen trat er als Zeitzeuge auf. Friedrich Schorn starb am 30. Januar 1988 in Berlin-Steglitz.

Zwiespältiger Charakter: Friedrich Schorn aus Mittelsinn. Juni
Foto: Vereinigung 17. | Zwiespältiger Charakter: Friedrich Schorn aus Mittelsinn. Juni
 
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