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Würzburg
Unibibliothek: Warum der Direktor Wertschätzung vermisst
400 Jahre! Sie ist Bayerns älteste und eine der ehrwürdigsten Unibibliotheken in Europa. Chef Hans-Günter Schmidt über Demokratie, Dienstleistungen - und fehlendes Geld.
Eine der ältesten Unibibliotheken in Europa wird 400: Direktor Dr. Günther Schmidt über Dienstleistungen, Digitalisierung - und fehlendes Geld.
Foto: Thomas Obermeier | Eine der ältesten Unibibliotheken in Europa wird 400: Direktor Dr. Günther Schmidt über Dienstleistungen, Digitalisierung - und fehlendes Geld.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 07.04.2020 12:37 Uhr

Alles begann leise, ohne formalen Gründungsakt, ohne Pomp oder Pauken. Aber mit Pulten. Für das Jahr 1619 verzeichnen die Rechnungsbücher der jungen Würzburger Universität Ausgaben für die Anfertigung von „Buchkästen“ und eben Ständern zum Lesen und Schreiben. Außerdem nennen die Rechnungen den Ankauf großer Nachlassbibliotheken, die in Fässern auf Pferdefuhrwerken aus Augsburg und Eichstätt herbeigekarrt wurden.

In den ersten Jahren nach 1582, als Fürstbischof Julius Echter in Würzburg die Universität (wieder-)begründet hatte, waren die Kollegien noch mit kleinen Büchersammlungen ausgekommen. Doch jetzt, 1619, sollten im großen Kollegienhaus Räume für eine „Newe Bibliotheca“ abgetrennt werden. Es ist der Beginn der ältesten, in ununterbrochener Kontinuität bestehenden Universitätsbibliothek in Bayern.

Vier Jahrhunderte später verzeichnet die Würzburger UB zwei Millionen Besuche im Jahr und beherbergt über 3,5 Millionen Medien. Der UB-Direktor über den Wandel vom abgeschotteten Bücherkabinett in eine demokratische Einrichtung für jedermann.

Frage: Herr Dr. Schmidt, wie viele Bücher hatte die Würzburger Universität vor 400 Jahren?

Dr. Hans-Günter Schmidt: Vor genau 400 Jahren? Da hatte sie vielleicht 1000. Was jeder einzelne Professor privat hatte, weiß man nicht so genau. Für den engeren Lehrbetrieb haben so etwa 100 Bücher eine Rolle gespielt. Damals machte man in einem Studienjahr in einem Fach vielleicht drei Bücher durch. Im 17. Jahrhundert ging es an der Universität nicht um Forschung im heutigen Sinn, da wurden Autoritäten vermittelt, Kernwerke.

Es gab also 100 solche Werke, und jeweils in genau einem Exemplar?

Schmidt: In sehr wenigen. Lehrbuchsammlungen wie heute gab es nicht – deshalb ja auch der Begriff Vorlesung: Das Werk wurde vorgelesen und vom Professor kommentiert. Und die meisten Studenten haben mitgeschrieben. Das Werk war zunächst für den Lehrkörper da, nicht für die Studierenden. Es wurde ganz frontal wiedergekäut. In großen Universitätsstädten ist ab und zu die Vorlesungsvorlage zu einem Stationarius gewandert, der sie professionell abgeschrieben hat. Dann konnte man die Kopien kaufen: das Grundwerk mit Kommentaren des Professors.

Ab wann durften die Studenten die Bücher anfassen, lesen, vielleicht sogar ausleihen?

Schmidt: Es kommt darauf an wo. In ihren Bursen, Kollegien hatten die jeweiligen Studenten schon Bücher zur Verfügung – in kleinen Handbibliotheken mit den paar Werken. Eine Bibliothek mit großem Bestand, wo man als Mitglied der Universität grundsätzlich ein Werk einsehen kann, gab es ab dem 18. Jahrhundert. Da reden wir aber noch nicht von Ausleihen. Im 18. Jahrhundert haben wir hier in Würzburg auch den ersten großen Bibliothekssaal bekommen.

Welche öffentliche Rolle hatte die Unibibliothek dann bis zum 18. Jahrhundert? Ein Kämmerlein, von dem niemand wusste?

Schmidt: Es gibt einen berühmten Reisebericht von 1705. Darin kommt ein Herr de Blainville durch Würzburg und wundert sich, dass die Universität hier keine Bibliothek hat. Er sucht und fragt in der Stadt herum, wo denn die Universitätsbibliothek sei – und keiner kann es ihm beantworten. Das ist typisch: Er kommt aus dem Ausland, geht davon aus, dass eine Bibliothek eine bekannte Einrichtung ist. In Leiden, in Paris hat man so etwas. In Würzburg ist es unbekannt. 1705 – da reden wir von der gerupften Bibliothek, von den Resten, die die Schweden im Dreißigjährigen Krieg hiergelassen haben. Da reden wir vielleicht von 4000 Bänden, das ist nicht viel.

Wie viele waren es vor 1618 oder 1648?

Schmidt: Etwa 7000, das kann man hochrechnen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, im Jahr 1673, gibt es dann den ersten Katalog mit 2119 Bänden im Bestand. Aber die Unibibliothek war noch immer etwas Internes, hatte keine öffentliche Rolle. Da sind wir noch weit von den zwei Millionen Benutzungsvorgängen, wie wir sie heute pro Jahr haben, entfernt.

Wann wurde das Kabinettchen mit ein paar Büchern drin wirklich größer?

Schmidt: Es ist eigentlich klein geblieben. Der erste große Sprung kommt 1803, mit der Säkularisation, als die Klosterbibliotheken aufgelöst werden. Danach sind es dann 25 000 Bände. Auch noch nicht viel. Aber daher rührt unser historischer Altbestand. Die Universitätsbibliothek wird Erbin der klösterlichen Buchkultur.

Dass es eine Massenbibliothek wird . . .

Schmidt: . . . ist die Entwicklung des 19. Jahrhunderts. Als das Publikationswesen professionalisiert wird, als es manche Werke nicht mehr in Auflagen von 200, sondern 20 000 Exemplaren gibt. Ab 1850 steigt es rasant an.

Hat da auch das Ausleihen begonnen?

Schmidt: Die Anfänge der großen Leihbibliothek liegen tatsächlich im 19. Jahrhundert. Vorher schon können die Professoren, die an anderen Standorten wie dem Botanischen Garten oder dem Juliusspital tätig sind, Bücher ausleihen. Auch Doktoranden haben Handapparate. Ab dem 19. Jahrhundert gibt es Ausleihordnungen, Kästen, wo man sein Leihgesuch einwirft.

Der Etat ist seit zehn, 15 Jahre der selber - die Kosten sind gestiegen: Würzburger Universitätsbibliothek hält den Betrieb trotz etlicher Sparprogramme aufrecht, sagt Hans-Günter Schmidt. 
Foto: Thomas Obermeier | Der Etat ist seit zehn, 15 Jahre der selber - die Kosten sind gestiegen: Würzburger Universitätsbibliothek hält den Betrieb trotz etlicher Sparprogramme aufrecht, sagt Hans-Günter Schmidt. 

Großer Sprung: Wie verstehen Sie die Rolle heute? Sie sind ja kein Hüter eines Kabinetts mehr.

Schmidt: Die Rolle heute? Es sind fünf Rollen. Wir sind selbstverständlich nach wie vor für Forschung und Lehre da, unser Kernauftrag. Inzwischen für viele fast unbemerkt: Die naturwissenschaftlichen Forscher zum Beispiel nehmen uns stark in Anspruch, bekommen uns aber kaum noch mit: Sie bekommen ihre Dokumente und Publikationen elektronisch, direkt auf den eigenen Bildschirm und merken mitunter nicht, dass wir uns um die Zugänge kümmern und die Zugriffe ermöglichen. Im Gegenteil, wir müssen eher rechtfertigen, warum es die Bibliothek noch braucht. Es ist ein bisschen wie bei der Müllabfuhr oder beim Strom aus der Steckdose. Man merkt? nur, wenn? nicht mehr da ist: Da fehlt dann die Wertschätzung für diese Dienstleistung, weil sie selbstverständlich erscheint.

Dafür werden Sie von den Studenten geschätzt.

Schmidt: Ja, das ist die zweite Rolle: Lehre. Stimmt, im vergangenen Jahr gab es die studentische Online-Petition zur 24-Stunden-Öffnung an allen Tagen des Jahres samt Weihnachten und Ostern. Wir werden als Lehr- und Lernort wahrgenommen wie nie zuvor. Wir haben Benutzungszahlen wie nie zuvor, erleben Sonntage, an denen hier 900 und mehr Benutzer sind. Das Gebäude ist ursprünglich für maximal 650 ausgelegt. Die Studenten sitzen zum Teil auf dem Boden oder auf der Treppe. Aber man hat hier immer einen Ansprechpartner vom Fach, die technische Infrastruktur, die man braucht – W-LAN, Kopierer, Scanner. Zu den Semesterenden werden wir fast gestürmt hier.

Die dritte Rolle?

Schmidt: Der gemeingesellschaftliche Auftrag: Wir sind öffentliche Bibliothek für alle! Jeder kann hierher kommen, kostenlos. Wir haben über 6000 Stadtbenutzer.

Das heißt, als Benutzer muss ich Würzburger sein? Oder kann ich aus Hammelburg kommen?

Schmidt: Sie können aus Hammelburg kommen oder aus Cottbus. Sie brauchen nur einen Wohnsitz in Deutschland. Und das nur, damit man Ihnen einen „Leistungsbescheid“ zustellen kann, falls Sie ein Buch nicht zurückbringen.

Dass man die UB ohne Gebühr einfach so als Bürger nutzen kann, das werden viele gar nicht wissen. Wünschen Sie sich noch mehr Stadtbenutzer, woher auch immer?

Schmidt: Wünschen schon! Wenn diese Aufgabe als so wichtig gesehen und entsprechend finanziert würde. Ich finde das extrem wichtig. Es gibt viele Länder, wo es so etwas nicht gibt: Dass sich jeder Staatsbürger über irgendeine beliebige Materie ungefiltert, unüberwacht, kostenlos informieren kann. Ich halte das für eine große demokratische Errungenschaft. Unsere großen, offenen Lesesäle und unser Freihandbestand, bei dem Sie ohne Kontrolle ans Regal gehen können – das ist ein Symbol von Demokratie.

Wenn jemand jetzt keine wissenschaftliche Literatur braucht – was findet der denn bei Ihnen?

Schmidt: Sie bauen ein Haus und ihre Gemeinde sagt, das Haus muss so und so sein. Wo kann ich das überprüfen? Schauen Sie bei uns in den Kommentar zur Bayerischen Bauordnung. Wenn Sie einen Behindertenausweis möchten und nicht wissen, warum sie ihn nicht bekommen, dann können wir zwar keine Rechtsberatung machen. Aber wir sagen Ihnen, wo sie hier etwas darüber lesen können. Und wenn Ihnen jemand etwas über die Geschichte Würzburgs erzählt – bei uns finden Sie alles darüber und können es überprüfen. Aber wie gesagt: Sie sind hier frei. Sie können einfach kommen und müssen uns nicht sagen warum.

Die vierte Rolle?

Schmidt: Das kulturelle Erbe zu wahren – auch wenn wir keinen Etat für Bestanderhaltung haben, keinen Restaurierungsetat, keinen Digitalisierungsetat. Wir sichern seit 1803 für Mainfranken das literarische kulturelle Erbe. Auch das ist kaum bekannt: Dass das ein mittelalterlicher Bestand ist, der Weltruhm hat in verschiedenen Disziplinen.

Sie vermissen öffentliche, politische Wertschätzung?

Schmidt: Sagen wir so: Warum kommt der Staatspräsident von Irland zu uns? Weil ihm die irischen Handschriften aus dem Mittelalter, die wir hier haben, etwas wert sind. Ich würde mir natürlich wünschen, dass es bei unseren eigenen Politikern diese Wertschätzung auch noch deutlicher gäbe. Einem Staat sollte das kulturelle Erbe etwas wert sein.

Bevor wir zu Kosten und Finanzen kommen – was ist die fünfte und letzte Aufgabe?

Schmidt: Die Digitalisierung. Was früher in Buchform abgeliefert wurde, ist jetzt elektronisch. Den Bibliotheken ist es gelungen, sich international zu vernetzen. Wir haben ein Katalogisierungsregelwerk, das weltweit gilt. In mühevoller Kleinarbeit haben die Bibliothekare tatsächlich ein internationales Format geschaffen. Wenn Sie bei uns im Katalog auf einen Link klicken, im Internet recherchieren, bekommen Sie gar nicht mit, ob das Gesuchte in Würzburg, in München, Nigeria oder Australien digitalisiert wurde.

Löst die Digitalisierung Ihr Platzproblem?

Schmidt: Den Raum, den wir für analoge Bücher weniger brauchen, brauchen wir für Serverräume, Technik, Arbeitsplätze. Und Technik braucht Strom, muss gekühlt werden – ein Nullsummenspiel. Und zumindest in den Geisteswissenschaften wird das analoge Buch nach wie vor eine Rolle spielen. Unsere Magazine sind in die Jahre gekommen und voll. Wir bräuchten dringend, wirklich dringend ein großes modernes Magazin. In fünf, acht Jahren spätestens.

Dann also zum Etat . . .

Schmidt: Unsere größte Sorge tatsächlich. Insgesamt, mit Personal und allem Drum und Dran, sind es elf Millionen Euro im Jahr. Das ist seit ungefähr zehn, 15 Jahren im Wesentlichen unverändert. Die Preise aber nicht. Und wir haben deutlich mehr Studierende. Wir sind unterfinanziert. Nach Planmodell müssten wir für Literaturerwerbung gut acht Millionen Euro haben. Mit Ach und Krach bekommen wir so 4,9 Millionen jährlich.

Zeigt zum 400-jährigen Jubiläum der Universitätsbibliothek die größten und bedeutendsten Schätze aus dem Altbestand: UB-Direktor Dr. Hans-Günter Schmidt. 
Foto: Thomas Obermeier | Zeigt zum 400-jährigen Jubiläum der Universitätsbibliothek die größten und bedeutendsten Schätze aus dem Altbestand: UB-Direktor Dr. Hans-Günter Schmidt. 

Bleibt eigentlich kein Geld, um zu feiern.

Schmidt: Dass viele Elemente unseres Jubiläumsprogramms in dieser Form nur dank der Teamarbeit der Kollegen hier und einer großen Einwerbeaktion möglich sind, werden Sie sich denken können. Dafür bin ich den Spendern dankbar. Wer bitte kann auf 400 Jahre Geschichte blicken? Wir sind die älteste Universitätsbibliothek in örtlicher Kontinuität in Bayern, gehören zu den ältesten in Mitteleuropa. Da könnten mehr Leute stolz darauf sein. Vielleicht sind sie's nach diesem Jubiläumsjahr. Zumindest gibt es dann keinen Grund mehr, uns nicht zu kennen.

Dr. Hans-Günter Schmidt ist seit Oktober 2016 Direktor der Universitätsbibliothek Würzburg (UB). Der 52-jährige Historiker und Anglist war nach dem Bibliothekarsreferendariat an der Bayerischen Staatsbibliothek München zunächst Leiter des Historicums an der Bibliothek der LMU München. 2001 kam er in seine Heimatstadt Würzburg zurück – als Leiter der Abteilung für Handschriften und Alte Drucke und Leiter des Digitalisierungszentrums.

 
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