Von dem, was Menschen anderen Menschen antun, hat Hans-Jürgen Kämmer mehr als genug gesehen für ein Berufsleben. Man könnte meinen, den Chef der Würzburger Mordermittler könnte kaum noch etwas erschüttern.
Aber wenn er von Opfern wie der siebenjährigen Manuela spricht, kommt auch der hartgesottene Kripo-Mann an seine Grenze: Er stockt, schüttelt fassungslos den Kopf in der Erinnerung an die entsetzliche Tat.
Ganz leise sagt er: „Es sieht nicht so aus, als habe der Täter Manuela gezielt nachgestellt. Das Tragische ist: Sie war vielleicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort – und wurde so zum Opfer.“
Die siebenjährige Manuela ist von einem Mann überfallen, sexuell schwer missbraucht und dann fast getötet worden. Die Folgen sind bis heute erschütternd: „Ihr Leben ist vorbei, seit dem 24. Mai 1976,“ urteilt einer der Würzburger Ermittler, die den Fall wieder und wieder aufgerollt haben.
Das Verbrechen ist 39 Jahre her – aber noch heute leidet Manuela furchtbar an den Folgen dieses Verbrechens. Das ist ein Grund, Manuelas Nachnamen und ihre heutigen Lebensumstände im Dunkeln zu lassen, um das Opfer nicht noch weiter zu stigmatisieren. Es ist aber auch ein Grund, den Fall innerhalb dieser Serie wieder aufzurollen.
Die Ermittler um Kämmer haben einen langen Atem bei Gewaltverbrechen. Das haben sie gerade im Fall des Autobahnschützen bewiesen, dem sie jahrelang nachspürten, bis sie ihn (unter Federführung des Bundeskriminalamtes) nach vierjähriger Suche 2013 fanden.
Diese Hartnäckigkeit gilt im Fall Manuela erst recht: „Mord verjährt nicht, und wir suchen den Täter wegen versuchten Mordes an einem Kind,“ betont Bernd Fischer, der den Fall aktuell noch einmal unter die Lupe genommen hat.
Die siebenjährige Manuela galt als pünktlich, zurückhaltend und zuverlässig. An jenem Montag im Mai 1976 eilte sie nach der letzten Unterrichtsstunde in der Burkardus-Schule zur Haltestelle an der Alten Mainbrücke. Manuela wollte mit dem Bus nach Hause. Sie wohnte auf dem steil ansteigenden Hügel über der Stadt in der Nähe der Festung Marienberg.
Aber aus irgendeinem Grund verpasste das siebenjährige Mädchen an jenem Montag den Bus. Da machte es sich zu Fuß auf den Weg durch die Höchberger Straße und die Gartenanlage „Rosengarten“ – da wo später das Landesgartenschau-Gelände war.
Dort, wo heute zwei Tankstellen stehen, führt die Straße steil bergan zur Wittelsbacher Höhe, rechts ist die Hofbräu und links am Hang unterhalb der Festung ein kleines Waldstück, das im Sommer teilweise dicht mit Bäumen und Büschen bewachsen ist.
Eingeweihte wissen, dass hier ein Pfad steil bergan führt, über den man den Weg zur Festung abkürzen kann. Manuela lief auf diesem ihr vertrauten Weg entlang, als ihr ein Mann begegnete: Anfang 20 vielleicht, 1,70 Meter groß und schlank, mit mittelblonden nackenlangen Haaren beschrieb sie ihn später. An der einen Hand soll er zwei Goldringe getragen haben, an der anderen einen silbernen.
Voller Erschrecken stellte das Kind fest, dass der Mann ihm plötzlich folgte. Dann ging er jäh auf Manuela los. Die Siebenjährige schrie. Doch er ließ sich nicht stoppen.
Er schlug auf das Kind ein, um es zum Schweigen zu bringen. Er warf Manuela zu Boden. Dann hatte er plötzlich ein Messer in der Hand, begann, auf die Kleine einzustechen.
Manuela verlor das Bewusstsein. Das Folgende muss man nicht im Detail schildern, um sich vorzustellen zu können, dass es furchtbar gewesen sein muss. „Er hat sie sexuell so schwer missbraucht, dass sie schwerste Verletzungen erlitt,“ umschreibt es Mordermittler Kämmer mühsam – und tut sich selbst da schwer dabei.
Manuela wäre an diesen Verletzungen um ein Haar gestorben. Als sie zwei Stunden später gefunden wurde, rettete eine Not-OP ihr Leben. Aber ihre seelischen Verletzungen blieben. Bis heute – 39 Jahre später – kann sie kein normales Leben führen, muss betreut werden. Sie ist weggezogen aus Würzburg, weit weg in den Süden Bayerns.
Die Würzburger Kripo begann Ermittlungen wegen versuchten Mordes – aber es gab keine Zeugen. Manuela war aufgrund ihrer Verfassung zunächst gar nicht in der Lage, überhaupt etwas zu sagen.
Die Siebenjährige lag auf der Intensivstation und kämpfte um ihr Leben. Tage später konnte sie nur vage Erinnerungen an die furchtbaren Momente schildern, eine Täterbeschreibung, den ungefähren Ablauf.
Die Kripo nahm um die 500 Personen unter die Lupe – die heiße Spur war nicht dabei. Alle Bemühungen liefen ins Leere. Das lag vor allem daran, dass es keine brauchbaren Hinweise aus der Bevölkerung gab. Das Zusammentreffen zwischen Opfer und Täter geschah offenbar zufällig – und der Täter vermied es, in der Region mit der gleichen Vorgehensweise noch einmal aufzufallen.
Dass Manuela überlebt hat, grenzt an ein Wunder – aber um welchen Preis: Sie ist traumatisiert, muss auch nach vier Jahrzehnten noch betreut werden, um leben zu können.
Was Manuela passierte, ist der Albtraum für viele Frauen:
An einer einsamen Stelle – an der man zufällig vorbeikommt – von einem Fremden überfallen zu werden. Häufiger sind es Personen aus dem direkten Umfeld, Verwandte oder Bekannte, die ein Kind missbrauchen.
Täter wie in diesem Fall sind eher die Ausnahme, weiß der Psychologe Adolf Gallwitz, der an der Polizeihochschule in Villingen-Schwenningen lehrt.
Gallwitz und sein Mitautor, der frühere Ermittler Manfred Paulus, haben sich mit vielen grauenhaften Aspekten der sexuellen Gewalt an Kindern wissenschaftlich beschäftigt und mehrere Bücher darüber verfasst. („Grünkram“, „Kinderfreunde – Kindermörder“). Bei der Suche nach Tatverdächtigen für sexuell motivierte Tötungsdelikte an Kindern „hat es sich bewährt, sich nicht nur auf Vorbestrafte zu beschränken, die schon sexuelle Übergriffe begangen haben,“ schreiben sie.
Wichtige Tatverdächtige sind „auch Menschen mit Auffälligkeiten im sozialen Bereich, mit sexuellen Unzulänglichkeiten oder mit schwachen zwischenmenschlichen Fähigkeiten und Kompetenzen.“ Gallwitz und Paulus stellen eine bittere Gesetzmäßigkeit fest: „Je niedriger die zwischenmenschlichen Fähigkeiten des Täters sind, umso größer ist das Risiko für das kindliche Opfer, entführt und getötet zu werden.“
Die Ermittler vom Kommissariat 1 der Würzburger Kripo lässt der Fall Manuela nicht los „Wir holen ihn immer wieder heraus, betrachten ihn aus neuen Blickwinkeln, wechseln den Sachbearbeiter, um eine neue Perspektive darauf zu finden“, sagt Kämmer.
Bisher haben sie den Täter noch nicht finden können. Ihre eine Hoffnung ist der Fortschritt der Wissenschaft.
Bei der DNA-Analyse können die Ermittler heute Spuren des Täters sichtbar machen, von denen sie 1976 noch nicht zu träumen gewagt haben. Die andere Hoffnung speist sich aus der jahrzehntelangen Erfahrung des Mordermittlers: Vielleicht hat doch jemand eine Kleinigkeit gesehen, der er damals keine Bedeutung beimaß – die aber die Ermittler weiterbringt.
Oder der Täter hat einem Zeugen gegenüber Andeutungen gemacht – aber der schwieg lange aus Angst oder Rücksichtnahme. Vielleicht traut er sich nach der langen Zeit, sie mitzuteilen, hofft die Kripo. Es wäre im Sinne Manuelas ein Stück Gerechtigkeit.
Wer kann zur Aufklärung des versuchten Mordes an Manuela beitragen? Die Polizei setzt auf Zeugen, die mit einem Tipp helfen können, den Fall zu klären. Hinweise an die Kripo Würzburg: Telefon (0931) 457-1732.