Theaterspielen - das bedeutet für viele, eine Rolle einzuüben und sie möglichst authentisch auf der Bühne darzustellen. Dass auch der umgekehrte Weg möglich ist - aus dem, was jemand mitbringt, eine Rolle zu entwickeln -, zeigt das Konzept der Theaterakademie für Kinder ab sechs Jahren. Ihre "Erfinderin", Gabriela Anna Schmid aus Bad Füssing, stellt dabei die Persönlichkeit des Menschen in den Mittelpunkt. Wie die erste Theaterakademie nach Röttingen kommt und welche Fragen Kinder und Jugendliche umtreiben, erzählt die Theaterpädagogin im Gespräch.
GABRIELA ANNA SCHMID: Frederike Faust, Leiterin des Jungen Theaters der Frankenfestspiele Röttingen, und ich kennen uns durch unsere gemeinsame Ausbildung zur Theaterpädagogin. 2017 habe ich Frederike eingeladen, mit mir in Eggenfelden die erste Musical-Theaterakademie zu machen. Daraus ist eine weitere gemeinsame Akademie entstanden, bei der wir auf die Idee kamen, dass wir das Ganze auch nach Röttingen bringen könnten.
SCHMID: Es gibt es keine fertigen Stücke wie zum Beispiel bei einem Musical-Workshop, wo Vorlagen von Texten und Musikstücken vorhanden sind, die Rollen verteilt werden und dann geprobt wird. Die Theaterakademie hat einen völlig anderen Ansatz. Sie ist näher dran an der Persönlichkeit des Kindes, weil es seine Rolle selbst entwickelt.
SCHMID: Man ermöglicht dem Kind, alles in seine Rolle hineinzupacken, was gerade in ihm drin ist – an Wirrwarr, Ängsten, Sorgen und Nöten. Mit Hilfe der Bühne kann dann alles aus dem Kind rauskommen, wie bei einem Ventil. Aus den verschiedenen Rollen ergibt sich eine Thematik, und daraus wird das Stück entwickelt.
SCHMID: Das ist die Herausforderung, vor allem, wenn die Akademie bloß drei Tage dauert. Aber eigenartigerweise ist es so, dass sich die Kinder mit ihren Themen sehr wohl zusammenfinden.
SCHMID: Wer und wie bin ich? Will ich Prinzessin sein oder Superman? Was steckt noch in mir? Es ist spannend zu sehen, wie ein Mädchen, das die Rolle der schönen Prinzessin wählt, diese Rollengestaltung kippt. Aus der Prinzessin wird plötzlich eine Persönlichkeit, die einen Charakter darstellt. Das Kind macht innerhalb dieser Rollenfindung die Erfahrung: Das mit dem schön sein ist ganz nett, aber ich bin ja sehr viel mehr. Ein Thema, das auch immer wiederkommt, ist: Ich bin anders. Will ich das, ist das gut oder doof? Oder: Ein Kind sucht immer den Mittelpunkt des Geschehens und der Gruppe. Was bedeutet das?
SCHMID: Frederike und ich haben natürlich schon einen Plan B. Wir haben eine Story im Kopf und schauen, ob die Rollen, die die Kinder entwickeln, auch in das Thema dieser Story passen.
SCHMID: Der erste Tag beginnt mit dem Thema „Begegnung“. Wir werden sehr körperlich arbeiten: Wo ist meine Grenze, wo Deine, was passiert, wenn ich dem anderen erlaube, in diese Grenze einzutreten? Wir werden viele Actionspiele machen und uns gegenseitig kennenlernen. Am Nachmittag geht’s darum: Wer bist Du, was ist in Deinem Leben gerade dran? Am Abend des ersten Tages sollte entweder schon eine Rolle oder die Idee für eine Rolle da sein. Dann geht es weiter mit der Rollenbiografie, und dann lässt man die verschiedenen Rollen aufeinander los.
SCHMID: Da schauen wir, ob die Rollen, die wir haben, in die thematische Grundidee von Frederike und mir passen. Wenn ja, wird das Stück die Inszenierung einer Fabel, die davon handelt, was mir im Leben wichtig ist. Daraus entwickeln wir die Geschichte – und dann geht es darum, den Charakter des jeweiligen Tieres, zum Beispiel das Gefährliche, Geheimnisvolle und Starke eines Wolfes, mit mir zu verbinden und mit meinem Körper auf die Bühne zu bringen.
SCHMID: Unsere bisher jüngste Teilnehmerin war vier – die älteste in derselben Akademie 18 Jahre alt. Wenn eine 18-Jährige sich mit einer Vierjährigen dank des Mediums Theater so anfreunden kann, dass beide gleichberechtigt auf der Bühne stehen, ist das ein Gänsehautmoment.
SCHMID: Da ist der Bogen sehr weit: Für das Kind, das bereits Vorerfahrung und Feuer gefangen hat und eine neue Erfahrung braucht. Für das Kind, das noch nie etwas mit Theater zu tun gehabt hat, aber den ganzen Tag Rollenspiele spielt.
SCHMID: … und ist deswegen auch geeignet für Kinder, deren Eltern eine Betreuung suchen und denken, dass diese Erfahrung eine gute sprachliche Schulung ist und hilft, wenn das Kind ein Referat halten muss. Und: Die Theaterakademie ist allen voran für Kinder geeignet, die mit alldem überhaupt nichts anfangen können. Die schüchtern in einer Ecke stehen, die sich in der Schule und im Kontakt mit anderen schwer tun, ADHS-Kinder, Zappelphilippe, wo es darum geht, sich fokussieren und konzentrieren zu müssen. Theater bietet für jeden eine Plattform, jeder kann etwas liefern – und die Faszination liegt auch im gemeinsamen Tun.
SCHMID: Es gibt sehr wohl Kinder, die arbeiten und sich mühen müssen – wo es auch nicht einfach ist, eine Rolle zu finden und zu gestalten. Ein Kind aus der Theaterakademie ausschließen musste ich aber noch nie.
SCHMID: Spaß macht es ab dem Moment, in dem das Kind sieht, dass das, was es sich in seinem Kopf zusammengedacht hat, tatsächlich in einer Rolle zusammenzufügen ist und in ein Kostüm passt. Sobald eine Rolle ein Kostüm oder ein Requisit hat, ist es für das Kind eine richtige Rolle - dann geht der Spaß los. Wenn diese selbst gefundene, selbst erarbeitete, von Null erdachte Rolle auf die Bühne kommt, macht das die Kinder außerdem unheimlich stolz. Es ist eine ganz andere Nummer, als wenn ich eine fertige Rolle kriege, und die Herausforderung darin besteht, diese möglichst authentisch auf die Bühne zu bringen.
SCHMID: Es gibt in den Akademien immer wieder das Kind, das überall aneckt und stört, das zu viel fragt, zu aktiv ist, schon sehr oft irgendwo hinausgeflogen ist. Ein besonderer Moment ist, zu sehen, wie Theater diese Kinder kriegt, so dass aus dem, der erstmal keinen Bock hat, einer wird, der seine Rolle findet. Ich erinnere mich an so einen Jungen, der im Laufe der Akademie seine Rolle als Hausmeister schon beinahe professionell gestaltet und am Schluss den meisten Applaus gekriegt hat. In seiner Rolle konnte er einmal der ruhige und überlegene Part sein - ein Erlebnis, das er im Alltag mit seinem Auftreten nie hat. Er hat so etwas anderes erlebt, auf das er künftig zurückgreifen kann.
SCHMID: Die Entwicklung der Kinder, selbst in dieser irre kurzen Zeit. Sie zu erleben, am ersten halben Tag, und zu sehen, wo sie am Ende stehen. Es springen immer Knöpfe auf – bei manchen sind sie riesig, bei anderen eher klein, und man muss genau hingucken, damit man sie sieht.