Die Leistung von Babys, sagt Kathleen Wermke, wird völlig unterschätzt. Wenn die Neugeborenen in den ersten Lebensmonaten schreien, lallen, brabbeln oder sonstige seltsamen Laute von sich geben, ist das für die meisten Menschen mal nervig, mal nett. Für die Würzburger Professorin ist es schlicht faszinierend und spektakulär. Denn, sagt sie: Mit diesen Äußerungen legen die Säuglinge die Grundlagen für das spätere Sprechen.
Seit mehr als 30 Jahren erforscht und untersucht die Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Uniklinikum Würzburg das Weinen und Schreien von Babys. Fast eine halbe Million Laute hat sie digitalisiert in ihrem Archiv. In früheren Studien hatte sie mit Kollegen gezeigt, dass schon Neugeborene dazu in der Lage sind, verschiedene Sprachen wie Deutsch oder Französisch vor allem anhand der Sprachmelodie zu unterscheiden. Gemeinsam mit Wissenschaftlern aus den USA und aus Neuseeland hat sie jetzt die Lautäußerungen von insgesamt 277 Säuglingen während der ersten sechs Lebensmonate genauer untersucht. Insgesamt hat das Team dabei mehr als 67.500 Schrei-, Gurr- und Brabbel-Laute analysiert. Fazit der Forscher: Es gibt ein eindeutiges Entwicklungsmuster - und die Melodien werden immer komplexer. Ein Gespräch über die einzigartige "sprachliche" Fähigkeiten der Babys und den Unterschied zu Affen.
Prof. Kathleen Wermke: Also auf der Seite des Hörens schon in der Gebärmutter. Die Babys haben ja mindestens über die letzten drei Schwangerschaftsmonate schon sehr intensiv auf die Stimme und Sprache der Mutter gehört. Vieles kommt zwar gedämpft durch die Flüssigkeit und das Gewebe an. Aber laute Geräusche von außen, der Herzschlag der Mutter, auch die Schritte werden sehr gut wahrgenommen. Und auch die Stimme der Mutter. Der Fetus merkt sich schon bestimmte Elemente der mütterlichen Sprechweise, vor allem melodisch-rhythmische Elemente.
Wermke: Auch der Umgebung, wenn sie laut genug ist. Viele Väter lieben es ja, durch die Bauchdecke zum Ungeborenen zu sprechen. Laute Musik dringt natürlich auch durch. Aber das Sprechen der Mutter ist ja insofern etwas Besonderes, weil seine Melodie hoch repetitiv ist, Melodie und Rhythmus sind also ständig wiederholen. Dadáda-die, dadáda-da . . . Das Gehirn des Fetus ist natürlich noch unreif und kann nur bestimmte Signale wahrnehmen und verarbeiten. Ganz besonders gut aber steigende und fallende Melodien, also Glissandi, oder sich wiederholende Rhythmen. Es muss eine hohe Regelhaftigkeit in dem Gehörten geben.
Wermke: Das hat man schon vor vielen Jahren indirekt nachgewiesen, mit Nuckeltests. Man hat drei, vier Tage alten Neugeborenen über Lautsprecher die mütterliche Stimme vorgespielt und den selben Text mit einer anderen Frauenstimme. Immer wenn das Baby schnell und ohne lange Pausen nuckelte, kam die Mutterstimme. Bei langsamem Nuckeln oder Pausen kam die andere Stimme. Das hatten die Neugeborenen relativ schnell gelernt und haben dann nur noch schnelle Saugrhythmen gemacht – weil sie die Mutter hören wollten.
Wermke: Mit den ersten Lauten. Aber ob man das jetzt Sprache nennen möchte oder nicht ist natürlich ein Streitpunkt. Die Linguisten werden sagen, das hat ja nun gar nichts mit Sprache zu tun. Wir sind der Meinung, dass Sprache langsam aus der Melodie herauswächst: Sprachentwicklung beginnt mit den ersten Babylauten nach der Geburt. Im engeren Sinne gibt es Sprache – mit einer Bedeutungsbelegung, einer Grammatik – im ersten Lebensjahr natürlich so gut wie noch gar nicht. Da drückt der Säugling noch alles über emotional geladene Laute aus, die noch holistischer Natur sind. Eine Art Sprache wie sie auch die Neandertaler wahrscheinlich noch hatten, holistisch, multi-modal, manipulative und melodisch. Abgekürzt „Hmmm“ nach Steven Mithen, dem Autor des Buches „The Singing Neanderthals.
Wermke: Manchmal schon, aber es ist immer von der Situation abhängig. Und die Babys sind sehr individuell und schreien alle unterschiedlich. Wie wir alle haben auch sie schon ihre Lautierungseigenheiten und bevorzugen bestimmte Elemente. Aber das war das, was wir seit vielen Jahren gesucht haben: Wo sind dabei die universalen Regeln? Worin finden wir in dem enorm vielfältigen Repertoire verschiedener Babys aus verschiedenen Kulturen, in all dem menschlichen Variationsreichtum, systematische Veränderungen auf dem Weg zu den ersten Worten?
Wermke: Dass die Melodie-Entwicklung das Entscheidende ist. Die Babys machen am Anfang beim Weinen einfache Melodiebögen, dann werden diese Bögen komplexer, also mehrbögiger und rhythmisch variiert. Auch beim Babbeln fangen sie mit zwei bis drei Monaten wieder mit einfachen Melodiebögen an, die dann in gleicher Weise wie das schon das Weinen komplexer werden. Emotionen werden in Lautmelodien codiert. Ähnlich wie in der Musik. Die Melodie trägt ja in der Musik und eben auch unserer Sprache sehr viel von unserer Emotion, von unseren Gefühlen und Wünschen. Auch in der Instrumentalmusik hat die Melodie diese immense emotionsübertragende Kraft, ohne konkrete, abstrakte Bedeutung – dazu braucht es dann zusätzlich die Texte im Gesang.
Wermke: Zumindest ist die Babymelodie eine Übertragung von Emotion und Bedürfnissen, die mit dem Alter komplexer werden, wie die Melodien, die einem Entwicklungsprogramm folgen. Affen haben das ja nicht. Die Fähigkeit zum Spracherwerb ist das Einzigartige, was uns Menschen anders als allen anderen Lebewesen angeboren ist: Die Wurzeln des Lautspracherwerbs sehen wir in diesen regelhaften, melodischen Veränderungen der ersten Lebensmonate und zwar in allen Babylauten, auch im Weinen. Ausgeschlossen ist hier das Weinen aufgrund von Schmerz.
Wermke: Affenmütter reden kaum mit ihren Babys, sondern sie interagieren intensiv mit Gestik und Körpersprache. Wir Menschen sprechen mit unseren Nachkommen, Affen sind relativ stumm, sie haben ein paar angeborene Kontakt- und Ruflaute und lernen dann eigentlich im Wesentlichen nur noch, in welchen Situationen und bei welchen Gefahren sie anzuwenden sind. Bei Singvögeln zum Beispiel ist das anders, die haben tatsächlich auch Lernphasen und machen Vorbilder nach. Frisch geschlüpfte Singvögel erlernen ihren Gesang in ganz ähnlicher Weise wie Säuglinge ihre vorsprachlichen Laute erwerben.
Wermke: Und die Melodien werden dabei systematisch komplexer. Wir haben mal berechnet, wie viele Kombinationsmöglichkeiten die Babys da eigentlich zeigen. Steigende Melodien, fallende Melodien, gerade und zum Teil auch U-förmige – wenn man die verschieden kombiniert und dann noch beliebig rhythmisch Pausen hinzuzählt: Da haben die Babys eigentlich sämtliche Intonationseigenschaften aller Sprachen der Welt schon zur Verfügung. Dann wählen sie aus , was sie davon behalten, danach was sie um sich herum hören.
Wermke: Und jeder plappert und übt für sich in einem großen Variantenreichtum, aber mit einem grundsätzlich ähnlichem Melodie-Entwicklungsprogramm. Und das wird mit dem Moment des allerersten Luftholens nach der Geburt angeschaltet.
Wermke: Babys mit Hörbeeinträchtigungen oder Lippen-Kiefer-Gaumensegel-Spalten haben teilweise natürlich gewisse Verzögerungen. Wie ausgeprägt diese sind und wie sie sich vermutlich auf die nachfolgenden Sprachentwicklungsphasen auswirken werden, können wir aus den Melodiemustern vermuten. Die Umgebungssprache muss dabei allerdings beachtet werdenwir haben gefunden, dass schwedischen, japanische und kamerunische Neugeborene sehr viel früher komplexe Melodien im Weinen zeigen.
Wermke: Genau, es sind Ton-Akzent-Sprachen mit ganz ausgeprägten Tonhöhenvariationen. Schwedisch wird ja oft auch als Singsang-Sprache bezeichnet. Lamnso, eine Sprache im Nordosten von Kamerun, ist eine tonale Sprache, da werden sogar Worte mit Tonhöhenvariationen ausgedrückt. Diese Modulationen prägen die Wahrnehmung und das eigene Lautieren des Babys.
Wermke: Die machen es einfach, ja. Das Lernprogramm der Sprache ist wie alle Verhaltensprogramme der Kinder hochgradig auf Imitation geprägt.
Wermke: Nicht unbedingt. Das Baby schreit jetzt nicht japanisch oder schwedisch, wie es in den Medien dann oft heißt. Aber wenn man das Weinen vieler Babys aus diesen Sprachgruppen vergleicht, sieht man im Mittel schon Tendenzen, die melodisch-rhythmische Eigenheiten der Umgebungssprache zeigen. Überbewerten darf man es nicht.
Wermke: Leider streng genommen nicht richtig. Unsere Forschung zeigt aber, dass melodisch-rhythmische Elemente dieser Sprachenschon vorgeburtlich und in den ersten Monaten prägendwirken. Und noch viel erstaunlicher finde ich die Tatsache, dass diese kleinen Würmer in der Lage sind, diese Elemente in ihre eigene melodische Sprache einzubauen. Das Erkennen ist das eine. Aber dass sie das Gehörte gleich selber nutzen – das ist phantastisch! Phänomenal. Das unterscheidet uns ja von allen anderen Primaten.
Wermke: Es gibt solche Schreie und solche Schreie. Viele Menschen begreifen gar nicht, dass das Baby in den ersten zwei Monaten gar kein anderes Werkzeug hat, um seine Fülle von Gefühlen und Wünschen auszudrücken. Monoton, wiederholend sind nur die Schmerzschreie. Das andere Weinen ist geradezu kommunikativ. Eltern können dies sehr gut unterscheiden.
Wermke: Das fängt bei vielen Babys mit drei Monaten mit den Gurrlauten an, wenn sie sich gut entwickeln – wenn es Sprachtalente sind, schon früher. Mit vier, fünf Monaten hört man schon silbenähnliche Laute, Freudenquieker, tiefes Grunzen, Tonsprünge oder komplexe laryngeale Konstruktionen, Schnalzlaute im Repertoire. Babys machen da wahnsinnig interessante Sachen – manche davon können wir kaum nachmachen.
Wermke: Die Laute sind ja Teile unseres Datenarchivs und waren zum Teil schon ausgewertet in verschiedenen früheren Arbeiten. Aber man lernt ständig dazu und erweitert seine Modelle. Jetzt haben wir das gesamte Archivmaterial, das geeignet war, mit geeigneten Methoden ausgewertet und unser Melodie-Entwicklungsmodell statistisch belegt. Von einfach zu komplex – klingt logisch. Aber wir wollten das, was wir seit langem vermuten, in ausreichenden Zahlen festklopfen. Es ist ja wirklich lebendige Forschung und es gibt auf dem Gebiet keine Vorarbeiten – wir betreten mit jeder Arbeit faktisch Neuland, das kostet Zeit und die Mittel sind stark begrenzt. Aber wir bekommen sehr viel von den Babys zurück – wir lernen von ihnen – und immer wieder geben sie uns neue Rätsel auf.