Datenbank mit 500.000 Babylauten
Wää-wä-äää. Eine halbe Million solcher Laute hat die medizinische Anthropologin in ihrer Datenbank archiviert. Schrei-, Wein- und Babbellaute von Babys aus aller Welt – eine einzigartige wissenschaftliche Sammlung. Und was für die meisten Menschen nicht gerade erbaulich klingt ist, ist für Kathleen Wermke „ein Feuerwerk an melodischen und rhythmischen Elementen“. Seit 30 Jahren geht die Wissenschaftlerin der Frage nach, wie wir Menschen zur Sprache kommen, wann und wie Sprache beginnt.
Seit vielen Jahren leitet Wermke an der Poliklinik für Kieferorthopädie der Uni Würzburg das Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen. Wobei das mit der „Vor-Sprache“ so eine Sache ist. Denn für die Anthropologin ist klar: Sprache beginnt nicht mit dem ersten Wort. Sprache beginnt mit dem ersten Schrei.
Neugeborene mit „Sprachtalent“
Zumindest mit den ganz frühen Lautäußerungen. Dass Neugeborene „Sprachtalent“ haben und die Entwicklung mit den ersten Schreimelodien beginnt, daran hat die Professorin keinen Zweifel. Auch wenn das nicht in das gängige linguistische Modell der Sprachentwicklung passt. In der Wissenschaftswelt galt (und gilt) die Lehrmeinung: Babygeschrei ist universal und hat für die Sprachentwicklung keine Bedeutung. Die Sprache selbst beginne frühestens mit dem Babbeln von Silben, eigentlich erst mit den Worten.
Dass aber Neugeborene in den ersten Tagen und Wochen schon sprachliches Talent zeigen, das wollten Wermkes Forscherkollegen lange nicht anerkennen. Bis die studierte Verhaltensbiologin vor sieben Jahren mit Mitstreitern den Nachweis lieferte: Säuglingslaute enthalten melodische Elemente der Muttersprache. Französische Babys klingen anders als deutsche. Wäääh-ähhhhhh-äaa.
Französische und deutsche Babys beim Weinen aufgenommen
„Da bedürfen die bisherigen Modelle zur Sprachentwicklung einer Überarbeitung“, sagt Wermke trocken. Für ihre Studie hatte die Würzburger Professorin, zusammen mit Kollegen vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften und Psycholinguisten aus Paris, 30 französische und 30 deutsche Neugeborene nicht absichtlich zum Weinen gebracht. Doch ihnen – beim Aufwachen, beim Wickeln oder vor dem Stillen – das Mikrofon hingehalten.Das Ergebnis der akustischen Analyse von mehreren Stunden Gewimmer und Geschrei: Kaum auf der Welt, imitieren die Kleinen die im Mutterleib gehörte Sprachmelodie ihrer Eltern und kopieren dabei charakteristische Intonationsmuster. Die deutschen Babys intonieren ihre Schreie auffallend häufig mit sinkender Tonhöhe. Bei den kleinen Franzosen steigt die Tonhöhe und Intensität an – mit Höhepunkt ganz am Ende.
Säuglinge brüllen nicht nur
Ähnlich gegensätzliche Melodieverläufe kennzeichnen die beiden Sprachen. Ist das deutsche „Mama“ auf der ersten Silbe betont, liegt der stimmliche Schwerpunkt beim französische „Maman“ auf der zweiten Silbe.
„Unglaublich, welche Komplexität das Babyweinen hat“, sagt Wermke nach 30 Jahren Forschung und vermeidet den Begriff „Babygeschrei“. Ihr geht es nicht um die Lautäußerungen der Säuglinge bei Schmerz oder schierer Not, also um den Schrei als Alarmsignal. Ihr geht es um das Quengeln, Wimmern, Babbeln. „Das ist kommunikatives Weinen, anrührend und mit emotionaler Botschaft.“
Aus den Hörproben in ihrer Datenbank liest sie Grundbausteine der Sprache und stimmliche Kreativität heraus. Säuglinge, sagt Wermke, brüllen nicht einfach nur. Sie bilden feine Klangfärbungen und Melodien und „spielen“ mit Betonung. Schmerz-Weinen klingt anders als zufriedenes oder gelangweiltes Herumweinen: „Sie teilen uns mit, was sie genau jetzt im Moment empfinden und wünschen.“
An der Charité in Berlin hatte Kathleen Wermke vor 15 Jahren für eine große Sprachentwicklungsstudie begonnen, „Stimmabdrücke“ zu sammeln. 2003 holte die Direktorin der Poliklinik für Kieferorthopädie, Professorin Angelika Stellzig-Eisenhauer, sie nach Würzburg. Im eigens geschaffenen Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen erforscht und untersucht Kathleen Wermke seitdem mit ihren Studenten, welchen Zusammenhang es zwischen frühen Klangeigenschaften im Weinen und späteren Sprachleistungen der Kinder gibt.
Ziel: Früh Entwicklungsstörungen herauszuhören
Wie Baby schreit, so spricht es später auch? Die Erkenntnisse aus den Schrei-Analysen können helfen, möglichst früh Entwicklungsstörungen zu entdecken, sagt Wermke. Ein Ergebnis ihrer Untersuchungen: Je variantenreicher Babys in den ersten Wochen weinen, je mehr steigende und fallende Melodiebögen sie dabei bilden, desto mehr Wörter und Sätze können sie mit zwei, drei Jahren spontan sprechen und verstehen. Das Ziel der Forscher am Würzburger Zentrum: möglichst früh Risiken für eine spätere Sprachentwicklungsstörung zu erkennen und frühe Therapiekonzepte zu entwickeln. Aber um „Normwerte“ für vorsprachliche Leistungen zu erarbeiten, „müssen neben biomedizinischen Faktoren auch Umgebungseinflüsse, vor allem die der Umgebungssprache berücksichtigt werden.“
Weinen ist Training fürs Sprechenlernen
Wääähh-ääh-äääähhh – Wermke klickt auf ein weiteres Hörbeispiel aus ihre digitalen Archiv. Alle Babyschreie, hat sie herausgefunden, bestehen aus nur vier Grundbausteinen. Und sie ändern sich von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Der Säugling fängt mit kurzen Lautelementen und einfachen Melodiebögen an, verdoppelt sie in der zweiten Woche, beginnt in der dritten Woche mit Vibrato-ähnlichen Modulationen – und ab der vierten Woche werden Lautelemente und Vibrato kombiniert. Eine regelrechte „Melodiekomposition“, bei der die Kleinen lernen, welche Muskeln im Stimmapparat sie wie bewegen müssen. Schreien und Weinen – das ist bereits Training fürs Sprechenlernen.
Mit ihrer französisch-deutschen Untersuchung konnten Wermke und ihre Leipziger und Pariser Kollegen zeigen, „dass bereits Neugeborene eine wohlkoordinierte Abstimmung zwischen Lautproduktion und Atemzyklus beherrschen“. Die Lehrmeinung hatte bis dato besagt, dass die Schreimelodie der Babys an den Atemrhythmus gekoppelt ist. Wie bei Affenjungen werde das Schreien allein durch den Atemdruck bestimmt, völlig unbeeinflusst vom Gehirn.
Kurz gesagt: Der Schrei sei schlicht ein Reflexlaut. Erst ab dem dritten, vierten Monat sei es überhaupt biologisch möglich, die melodisch-rhythmischen Eigenschaften der Umgebungssprache ansatzweise aktiv zu imitieren. Und die eigentliche Entwicklung der Sprache, so die gängige Meinung einiger Linguisten, beginne ab dem zwölften Monat – mit der Wortproduktion.
Für Kathleen Wermke indes ist klar: Sprachentwicklung beginnt gleich, direkt nach der Geburt. Mit dem ersten Atemzug und mit den ersten Schreimelodien. Und die beobachteten Melodiemuster – mal abfallend wie im Deutschen, mal ansteigend wie im Französischen? Die Babys können sie eigentlich nur im Mutterleib gelernt haben, sagt Wermke. Dass Babys im letzten Drittel der Schwangerschaft die Stimme der Mutter erkennen und Mamas Sprache von einer Fremdsprache unterscheiden können, ist bekannt. Zwar nimmt das Ungeborene die Geräusche der Außenwelt durch das Fruchtwasser verzerrt wahr – aber Melodie und Rhythmus der
mütterlichen Stimme dringen gerade dadurch besonders gut zu ihm durch.
Baby aus China und Kamerun weinen melodisch
Dass die ersten Wääääähh-ääääähs von wenige Tage alten Neugeborenen schon charakteristische Spuren der Muttersprache zeigen – diese Vermutung können die Anthropologin und ihre Doktorandinnen mit ihrer jüngsten Studie von 6500 Lauten belegen: ein Vergleich von Tonaufnahmen aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen – von deutschen Neugeborenen und von 21 Babys aus Kamerun und 55 aus China. Beides Länder, in denen tonale Sprachen – Lamnso und Mandarin – gesprochen werden.Anders als im Deutschen, Französischen oder Englischen entscheiden in tonalen Sprachen die Tonhöhe und die Melodie, was ein Wort bedeutet. Für europäische Ohren ungewohnt: Der scheinbar gleiche Laut kann völlig unterschiedliche Dinge bezeichnen – je nachdem, ob er hoch, tief oder mit einem besonderen Tonverlauf ausgesprochen wird.
Babys haben Sprachmelodie verinnerlicht
In ihrem Babylabor an der Zahnklinik sucht Wermke Audiodateien von chinesischen Babys heraus, aufgenommen am vierten Lebenstag: „Hören Sie's? Phänomenal!“ Aus den kurzen Weinlauten hört man tatsächlich Tonhöhenvariationen heraus – Konturen wie im Mandarin. „Die Säuglinge haben die Sprachmelodie schon bei der Geburt verinnerlicht.“ Noch musikalischer, melodischer weinen die Babys im hoch gelegenen Grasland im Nordwesten Kameruns. Im vergangenen Jahr hat Wermke dort das Volk der Nso besucht, eine Psychologiestudentin vom Institut für kulturenvergleichende Entwicklungspsychologie in Osnabrück nahm weit über 1000 Babylaute auf.Äh-äää-ääähh-wääää. Gerade einmal drei Tage alt, weint ein Neugeborenes der Nso eine regelrechte Melodie. Ein Singsang, wie die Tonsprache der Eltern. Mandarin mit seinen vier Grund-Tönen ist schon eine höchst komplexe Sprache – die Sprache des 280 000 Menschen großen Volkes in Kamerun ist es noch mehr: Lamnso kennt acht Töne, die teils noch zusätzlich in ihrer Kontur variieren. Und schon die Babys weinen höchst variabel: So ist bei den Kindern der Nso nicht nur der Abstand zwischen tiefstem und höchstem Ton deutlich größer als beim Baby mit deutschsprachiger Mutter.
Auch das kurzzeitige Auf und Ab von Tönen im Laut ist intensiver.
Wermke führt lächelnd noch ein paar Laute aus Peking vor: „Ein musikalisches Opus gigantischer Dimension.“ Für sie die Bestätigung ihrer Theorie: Spracherwerb beginnt mit der Geburt, Babys weinen in ihrer Muttersprache. „Natürlich bleibt unbestritten, dass Neugeborene dazu in der Lage sind, jede gesprochene Sprache der Welt zu erlernen, unabhängig davon, wie komplex sie ist.“