Scheidegg. Die Prinzregent-Luitpold-Kinderheilstätte . . . Plötzlich wird ihr so vieles klar. Sie hatte sich durchs Internet geklickt, gelesen . . . und völlig unerwartet und unvermittelt landet Petra Keller vor zwei Jahren auf dieser Seite, www.verschickungsheime.de. In erschütternden Berichten schildern Betroffene dort ihre Erfahrungen und Erlebnisse in den Kindererholungsheimen der ehemaligen Bundesrepublik. Und Petra Keller sitzt zu Hause in Unterpleichfeld (Lkr. Würzburg) fassungslos vor dem Rechner, liest und liest und weiß: Da gehöre ich dazu. Ich bin auch ein Verschickungskind.
Bronchitis: Vom Kinderarzt zur Kur geschickt
Am nächsten Tag schreibt sie selbst ihre Geschichte auf. Zumindest das, an was sie sich noch erinnert. Oder was sie sich im Nachhinein erschließt. 1974 musste es gewesen sein, sechs Jahre alt war sie damals. Als Baby hatte Petra Keller schon unter Atemnot gelitten. Und als die Erstklässlerin tagsüber röchelnd und schnaufend im Unterricht und nachts schlaflos und pfeifend zwischen aufgetürmten Kissen im Bett saß, warnte der Erlanger Kinderarzt die Eltern vor spastischer Bronchitis. Die Lungen des Mädchens aus Mittelfranken sollten, so der ärztliche Rat, Erholung finden. Sechs Wochen lang, im anerkannten Kurort im Allgäu.
"Ich staune, an wie viele Einzelheiten sich manche Betroffenen erinnern können", schreibt Petra Keller am Tag nach ihrer Zufallsentdeckung im Internet an Anja Röhl, die Initiatorin der Verschickungsheim-Seite. "Ich habe alles weggepackt, tief in mir vergraben." Aber auch wenn sie sich selbst nicht an Details, nicht an die genauen Umstände mehr erinnern kann, weiß die 53-Jährige: "Von allen gut gemeint, waren es sehr, sehr schwere Wochen für mich."
Ihren grauen Teddy hatte sie dabei gehabt. Sie war mutterseelenallein im Zug zur Kur gefahren. Und in der Kinderheilstätte in Scheidegg war es streng zugegangen. Der Speisesaal blitzt in der Erinnerung auf: "Wir wurden eingeteilt für die Essensausgabe. Alle waren einmal dran. Wir saßen zu mehreren am Tisch. Ich mochte die Fettbrocken im Essen nicht und warf sie unter den Tisch, nachdem ich mich immer vergewissert hatte, dass keine von den Erzieherinnen mich beobachtete. Ein Mädchen übergab sich beim Essen. Alles wurde weggewischt…und ein neuer Teller vorgesetzt."
Verschickungsheime: ein dunkles Kapitel der Nachkriegsgeschichte
Die Geschichte von Petra Keller, die Berichte der vielen Zeitzeugen über die Kinderkuren – ein einziger Schrecken. Mindestens acht bis zwölf Millionen Mädchen und Jungen sind in den 1950er bis 1990er Jahren bundesweit zum Erholungs- und Kuraufenthalt in Kinderheime und Heilstätten geschickt worden, schätzt Anja Röhl. Die Sozialpädagogin und Autorin, Stieftochter der Journalistin und späteren RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, war selbst zwei Mal "verschickt" worden. Ihre Erlebnisse hat sie vor einigen Jahren veröffentlicht.
Vor zwei Jahren startete Röhl dann die Internet-Seite, initiierte eine Umfrage – und erhielt von Betroffenen weit über 3000 Fragebogen ausgefüllt zurück. Gerade ist basierend auf den Zeitzeugenberichten ihr neues Buch erschienen: "Das Elend der Verschickungskinder – Kinderheime als Orte der Gewalt."
Erziehungsmethoden aus der NS-Zeit
Röhl schreibt vom "Boom stärkster Verschickungstätigkeit" bis Mitte der 1970er Jahre, weit über 1000 Heime soll es in Westdeutschland gegeben haben. Schon Dreijährige mussten dort sechs Wochen verbringen. Folgt man Röhl offenbar bei Ärzten, Schwestern und "Tanten", die auch schon für die Kinderlandverschickung in der Zeit des Nationalsozialismus zuständig waren. Und die "Pädagogik", die Erziehungsmethoden, wurden offenbar nahtlos übernommen.
Der Ton und die Methoden in den Heimen – sie seien eine Fortsetzung der Haltungen, Konzepte und Ideen aus der NS-Zeit gewesen, sagt auch die Stuttgarter Historikerin Hilke Lorenz. In ihrem in diesem Jahr erschienen Buch "Die Akte Verschickungskind" beschreibt sie, wie vieles auf die Pädagogik von Johanna Haarer zurück geht – und deren Erziehungsratgeber "Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Viele der Erzieher, Sportlehrer, Krankenschwestern, Heimleiter hätten "ihr Handwerk, wenn man das so nennen will, in der NS-Ära gelernt", sagt Anja Röhl über diejenigen, zu denen die Kinder da geschickt wurden. .
Petra Keller kann sich an den Schlafsaal noch erinnern. "Ziemlich groß. Viele Kinder in ihren Betten und in der Mitte stand dann nachts der Nachttopf." Gab es keine Toiletten, fragt sie sich. Aufs Klo durfte man nur zu bestimmten Zeiten, Bettnässer wurden vorgeführt. Bestrafung und Belohnung - bloße Willkür. "Im Flur befand sich ein Schrank, in dem Naschsachen waren. Wir standen außen herum und wurden aufgerufen. Dann bekamen wir etwas Süßes." Sie weiß, dass sie während der Zeit in Scheidegg nie Besuch von ihrer Familie hatte, dass es dort niemanden gab, den sie kannte. Dass man Briefe an die Eltern sonntags schreiben musste. Und dass sie erst durch die Hände der Schwestern und Erzieher gingen . . . "Ich scheues, stilles Kind befand mich für lange Zeit unter wildfremden Menschen. Kein Telefonanruf. Nichts."
Die 53-Jährige, die seit acht Jahren im Landkreis Würzburg lebt, erinnert sich an ein grausam strenges Regiment. "Wie habe ich das nur ausgehalten?", fragt sie sich immer wieder. "Ich weiß nicht, wie mir dieser Aufenthalt hätte helfen können, Kurort hin oder her. Die Luft dort war sicherlich gut, aber wenn doch eine Kinderseele sich so furchtbar einsam fühlt…"
Petra Keller erinnert sich, dass nach den sechs Wochen ihre Eltern und ihre große Schwester in Erlangen am Bahnhof standen. Und dass sie tränenüberströmt zur Schwester rannte. "Ich stürzte mich in ihre Arme und heulte immerzu."
Was das kleine lungenkranke Mädchen erlebt hatte auf seiner "Kur"? Sie, still und zurückhaltend, habe nichts erzählt. Und es fragte ja niemand näher nach. Der Drill, der Zwang, die traumatischen Erfahrungen: "Es war alles weggepackt", sagt Petra Keller. "Ich habe alles verdrängt." Es sei das "Drama" der Verschickungskinder, dass in den Familien nie darüber gesprochen wurde. 30 Jahre, 40 Jahre vergingen, ohne dass sie selbst an Scheidegg zurückdachte.
In den Jahrzehnten nach dem Krieg wurden wohl zwischen acht bis zwölf Millionen Kinder ins Allgäu, an die Nordsee, in den Harz oder in den Schwarzwald verschickt. Die Kinder sollten sich dort erholen, zunehmen, ihr Asthma oder andere Beschwerden auskurieren. Bis in die 1980er Jahre verschrieben Ärzte die mehrwöchigen Kuren, die Eltern brauchten nichts zu zahlen. Ein System, bei dem die Bundesbahn, die Heimbetreiber, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Kommunen und viele weitere Akteure mitverdienten - auf Kosten der Kranken- und Rentenkassen. Ein Geschäftsmodell, sagt Petra Keller. Und: "Die Heime mussten voll werden."
Ohrfeigen, Zwangsmahlzeiten, Nachtisch-Verbot
Sammeltransporte quer durch Deutschland, Schlafentzug und Ohrfeigen, ganz wenig zu trinken, stattdessen Haferschleim und Fettsuppen. Zwangsmahlzeiten, weil der Erfolg der Kur auch an der Gewichtszunahme der Kinder gemessen wurde. Drill statt Erholung, seelische Gewalt statt Genesung. Wer aufmuckte oder Heimweh hatte, wurde in die Ecke gestellt oder bekam keinen Nachtisch.
Mehrere Tausend Betroffene haben mittlerweile auf der Webseite verschickungsheime.de über ihre Erfahrungen berichtet. Petra Keller kümmert sich in der Initiative heute um die Scheidegger Verschickungskinder und steht als Ansprechpartnerin für alle bereit, die dort litten . . . "Sie sind so dankbar, dass sie eine Anlaufstelle haben, wo sie sich untereinander austauschen können", sagt Keller. In einer kleinen Whatsapp-Gruppe "treffen" sich die "Scheidegger", es gibt Kontakte bis nach Finnland oder in die USA. Und Petra Keller erfährt viel vom Leid der anderen. Dem damals. Und dem heute. Viele Betroffene sind bereits in Rente, haben schwere Erkrankungen, sind in Therapie.
Wie Petra Keller. "Ich habe diese Zeit unterschätzt", sagt die gelernte Gärtnerin und Ergotherapeutin. Und: "Ich war Jahrzehnte über eher im Überlebensmodus." An Anja Röhl schreibt sie vor zwei Jahren, am Tag nach dem Zufallsfund im Internet: "Unzählige Therapien liegen hinter mir. Ellenlange Listen mit Diagnosen wie posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende Depression, soziale Phobie, selbstunsichere Persönlichkeit, Ängste (Verlustängste) etc. Gestern, durch das Lesen der vielen, vielen Kommentare zum Thema Kinderverschickung, wurde mir klar, was ich als 6/7-jähriges Kind alles durchgemacht haben muss."
Trotz intensiver Therapien und jahrelangem Tagebuch-Schreiben "ist ein Teil in mir verschlossen und unbelebt" geblieben all die Jahre, sagt Petra Keller. Sie bekommt seit ein paar Jahren Erwerbsminderungsrente. Und sie findet Halt im Malen, im Arbeiten mit Speckstein und Ton, im Schreiben. "Meine Kreativität hat mich überhaupt durch das Ganze gebracht. Ich male – und dann kommen die Sätze aus den tiefsten Tiefen heraus."
Bundesweite Initiative: Immer mehr Betroffene melden sich
Das lange verschwiegene unaufgearbeitete Thema der Kinderkuren und Erholungsheime – dank Anja Röhl und der vielen Betroffenen, die sich jetzt melden und engagieren hat es inzwischen bundesweit auch die Politik erreicht. "Es gibt sie auch in Unterfranken. Die Verschickungskinder leben überall", sagt Petra Keller. "Ihre Nachbarin, ihr Nachbar könnte auch ein Verschickungskind sein."
Die 53-Jährige aus Unterpleichfeld möchte "den Menschen, den Betroffenen hier im Raum Unterfranken die Möglichkeit geben, auf unsere Initiative aufmerksam zu werden". Um ihnen "endlich Raum geben zu können, gesehen zu werden und ihrem Leid eine Stimme geben zu können."
Scheidegg, 1974. Ein Foto hat Petra Keller noch von ihrer Kur. In ihrem Bericht an Anja Röhl vor zwei Jahren schreibt sie: "Es zeigt mich sitzend, blass mit ernstem Gesicht. Die Eltern bekamen es zugeschickt. Ein Gruß aus dem fernen Allgäu. Zum Muttertag. Das Bild gibt es noch. Später, als Jugendliche, erwähnte ich meiner Mutter gegenüber, wie schlimm die Zeit damals für mich war. Und sie glaubte mir und sagte, sie würde mich nicht wieder dorthin schicken. Das zumindest war ein Trost."
ich schätze Sie als eine kompetente und seriöse Journalistin. Zu diesem Thema hätte ich mir allerdings eine etwas intensivere, sprich neutralere Recherche und dementsprechend ein etwas weniger pauschales Urteil über Verschickungskinder gewünscht.
Ich war selbst in den 70ern jeweils 6 Wochen in Oberstdorf und auf Norderney zur Erholung mit 6 bzw. 8 Jahren. Ich habe daran keinerlei schlechte Erinnerungen, im Gegenteil. Dass jetzt meine Aussage unter Freunden, ich sei auch ein Verschickungskind gewesen, mit einem mitleidigen "Oh, du Armer" quittiert wird, stört mich sehr. Ihr Artikel lässt aber keine andere Reaktion zu: Millionen ... erlebten Gewalt ... kehrten ... traumatisiert zurück. Ich nicht!
Ebensowenig, wie ich zehn Jahre in einem Internat verbracht habe und dennoch nicht misshandelt wurde und traumatisiert bin. Es waren tolle Jahre, die ich nicht missen möchte.
Pauschale Urteile über solche Dinge helfen keinem weiter, sie polarisieren höchstens. Schade!
Meine Frau wurde als vierjährige verschickt und kann sich unter Anderem daran erinnern das ein zweijähriges Kind neben ihr im Kinderbett schlief (Bettstädle).
Die Götter in weis(Ärzte) haben auch heute noch große Macht, aber damals war das so gut wie Gesetz für einfache Leute, was die sagten.
Auch hier spielten Nonnen eine maßgebliche Rolle.
Wir haben selbst drei schon erwachsene Kinder und es bricht mir das Herz wenn ich meine liebe Frau als vierjähriges Mädchen am Bahnsteig stehen sehe.