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WÜRZBURG
Zum Welt-Alzheimertag: Im Alter wieder Kriegskind werden
Berlin 1945, Rückkehrer - Berlin / 1945 / Returning to Berlin - Berlin / Fin de la guerre 1945 : le 'Grand-Berlin' sous admi       -  Kriegsende 1945: Ausgebombte Berliner Familien kehren zurück. Viele haben Schreckliches erlebt. Die Folgen traumatischer Erfahrungen von Kriegskindern wurden erst spät wissenschaftlich erforscht.
Foto: akg-images / Ria Nowosti | Kriegsende 1945: Ausgebombte Berliner Familien kehren zurück. Viele haben Schreckliches erlebt. Die Folgen traumatischer Erfahrungen von Kriegskindern wurden erst spät wissenschaftlich erforscht.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 27.04.2023 02:19 Uhr

Es begann plötzlich, wenige Monate vor ihrem Tod. Sie fing an, nach Otto zu fragen. Immer wieder und mit ängstlichem Unterton. „Hast du den Otto nicht gesehen?“ Keiner der Betreuerinnen wusste, wen die Seniorin meinte. Einen Otto gab es nicht im Pflegeheim. Ihr verstorbener Mann hieß anders. Und die Frau hatte zuvor nie von einem Otto erzählt.

Nachfragen bei den Angehörigen ergaben, dass es sich um den vermissten Bruder handelte. Otto war im Zweiten Weltkrieg ein junger Soldat und kam nicht mehr zurück. „Vermisstsein hört nie ganz auf“, sagt Angelika Kraus, Therapeutin im Lindenhof und Brunnenhof, Senioreneinrichtungen des Landkreises Würzburg. „Mit fortschreitender Demenz kommen die schmerzlichen Erfahrungen wieder nach oben.“

Angelika Kraus erzählte auf dem „3. Würzburger Demenztag“ am vergangenen Wochenende mehrere Erlebnisse mit an Alzheimer erkrankten Bewohnern der Seniorenwohnanlage in Würzburg. Es sind keine Ausnahmebeispiele. „Die Schrecken von damals sind Wunden, sie sind vernarbt, aber nie verheilt – und sie wurden auch nie thematisiert und therapiert.“

Traumafolgen bei Kriegskindern

Traumafolgen bei Kriegskindern waren lange Zeit kein Thema, informierte der Arzt, Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Altersforscher Professor Hartmut Radebold aus Kassel in seinem Vortrag beim Würzburger Demenztag. Die schrecklichen Erfahrungen schienen Kinder nicht zu belasten.

Dies vermitteln zum Beispiel auch Fotos von lächelnden Jungen und Mädchen, die in der Nachkriegszeit in den Ruinenlandschaften der zerstörten Städte spielten. Doch dieser Eindruck täuschte, wie die Forschung der vergangenen Jahre gezeigt hat.

Hartmut Radebold, selbst ein Kriegskind, zählte auf, was den Kindern der Jahrgänge ab etwa 1930 widerfahren sein könnte: Die Jungen und Mädchen sahen Verletzte und Tote, erlebten Flucht, Vertreibung, Ausbombung, Trennung von den Eltern durch Kinderlandverschickung, Vergewaltigungen der Mütter. Ein Viertel aller Kinder wuchs auf Dauer ohne Vater auf. Damit verbundene Gefühle sind Sicherheitsverlust und Ausgeliefertsein.

Hinzu kam, dass Kinder mit ihrem Kummer oft alleine blieben. Die Erwachsenen hatten kein Ohr für sie und schwiegen. Mit ein Grund waren Schuldgefühle, weil Deutschland die Katastrophe heraufbeschworen hatte, und weil man das Erlebte lieber verdrängte.

Wenig wissenschaftliche Forschung

Auch die Forschung beschäftigte sich nicht damit, weil man über die Befindlichkeiten der Trümmerkinder nicht viel wusste. Es gab lediglich die „Langeoog-Studie“: Auf die Insel wurden zwischen 1946 und 1950 über 12 000 Kinder hingeschickt und dort untersucht. Sie hatten Angstzustände, Schlafstörungen, waren unterernährt.

Drei Jahre später wurden sie erneut untersucht. Es ging ihnen viel besser. Daraus wurde gefolgert: „Kinder können Schlimmes erlebt haben, es bleiben aber keine Folgen“, so Professor Radebold. „Damit verschwand das Thema aus der Wissenschaft.“ Für viele Jahre. „Nach heutigen Kriterien müssen damals aber 30 Prozent der Kinder als ausgeprägt traumatisiert und ebenso viele als ausgeprägt beschädigt angesehen werden.“

Die Kriegskinder setzten laut Radebold einen Abwehrmechanismus ein – allerdings nicht bewusst. „Sie haben die Erfahrungen verdrängt, bagatellisiert, verallgemeinert.“ Alles blieb unter einer „stabilen seelischen Betondecke“. Sie wurden erwachsen, haben ihr Leben aufgebaut und funktioniert. Viele Erinnerungen seien aber bleibend eingeätzt.

Im Alter dann holen viele Kriegskinder ihre Erfahrungen ein. Es kommt zur Trauma-Reaktvierung, etwa durch laute Geräusche, oder zu einer Re-Traumatisierung aufgrund einer bedrohlichen Erkrankung, also einer neuen traumatischen Situation.

Bei Demenzkranken werden alle kriegsbedingten Erinnerungen besonders wach, weil nur die kognitiven Fähigkeiten verloren gehen, die Affekte jedoch bleiben. Dann werden sie wieder zu Kriegskindern – mit all ihren Ängsten und Nöten.

Informationen zum Welt-Alzheimertag

Der Welt-Alzheimertag findet seit 1994 immer am 21. September statt. In diesem Jahr steht er unter dem Motto: „Jung und Alt bewegt Demenz“. Initiiert wurde der Welt-Alzheimertag von der Dachorganisation Alzheimer?s Disease International mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation WHO, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die verschiedenen Demenz-Erkrankungen zu richten. Die häufigste Form ist die Alzheimer-Krankheit.

In Deutschland leben nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft in Berlin derzeit fast 1,6 Millionen Demenzkranke. Bis zum Jahr 2050 wird sich Prognosen zufolge die Zahl der Erkrankten auf drei Millionen erhöhen.

In der Würzburger Uniklinik läuft seit 2010 ein Forschungsprojekt zur Früherkennung von Demenz: die „Vogel-Studie“. Ziel ist es nach Angaben der Vogel Stiftung, den Ausbruch der Erkrankung um bis zu zehn Jahre nach hinten zu verschieben; so lange bräuchte die Forschung noch, um Heilungsmöglichkeiten zu finden.

Im Jahr 2014 wurden in den bayerischen Krankenhäusern 2930 Krankenhausaufenthalte mit der Hauptdiagnose Alzheimer gezählt, 59 Prozent davon waren Frauen. Wie das Bayerische Landesamt für Statistik weiter mitteilt, waren das 20,1 Prozent mehr als ein Jahr vorher.

Verborgene Schätze, so lautet der Untertitel der Ausstellung „Kunst und Demenz“ im Museum im Kulturspeicher in Würzburg. Die Eröffnung ist am Welt-Alzheimertag an diesem Mittwoch, 21. September, um 18 Uhr. Gezeigt werden bildnerisch-künstlerische Arbeiten, die von Menschen mit Demenz angefertigt wurden.

Den Eröffnungsvortrag hält Professor Konrad Maurer zum Thema „Alzheimer in der Kunst“. Er war bis 1993 am Uniklinikum Würzburg tätig und bis 2009 Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum von Frankfurt/Main. Ab 1995 richtete er zusammen mit seiner Frau im Geburtshaus von Alois Alzheimer in Marktbreit (Lkr. Kitzingen) eine Gedenk- und Tagungsstätte ein. Nach Alzheimer ist die häufigste Form der Demenzerkrankungen benannt. Ende 1996 entdeckte Professor Maurer im Archiv der psychiatrischen Abteilung der Frankfurter Uniklinik die Original-Krankenakte von Auguste Deter, der ersten bekannten und mittlerweile berühmten Alzheimer-Patientin.

Die Ausstellung ist in Kooperation mit dem Verein HALMA (Hilfen für alte Menschen im Alltag) sowie der Alzheimer Gesellschaft Würzburg/Unterfranken entstanden. Die Bilder sind bis zum 9. Oktober zu sehen: Dienstag 13 bis 18 Uhr, Mittwoch 11 bis 18 Uhr, Donnerstag 11 bis 19 Uhr, Freitag, Samstag, Sonntag 11 bis 18 Uhr; Montag geschlossen.

Kontakt und Hilfe: HALMA, Bahnhofstr. 11, 97070 Würzburg, Tel. (09 31) 20 78 14 20; E-Mail: info@halmawuerzburg.de; Info im Internet: www.halmawuerzburg.de. Unter derselben Adresse und Telefonnummer ist auch die Alzheimer Gesellschaft Würzburg/Unterfranken erreichbar. E-Mail: info@alzheimerwueufr.de; Internet: www.alzheimerwueufr.de cj

 
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