Der Stadtrat prüft die Namenspatrone Würzburger Straßen auf „diskreditierende Handlungen“ während der NS-Zeit. Damit liegt er im Trend. München, Hamburg und Berlin, Oldenburg, Kassel und Hannover, Ahlen, Münster, Nürnberg und viele mehr machten und machen das auch.
Das Nachdenken über frühere Ehrungen ist kein deutsches Phänomen
In vielen Ecken auf dem Globus setzen sich Bürger mit Namensgebern und Ehrungen auseinander, wie in den USA, wo der höchste Berg Nordamerikas, 1915 nach US-Präsident McKinley benannt, seinen indigenen Namen Denali zurückerhielt.
Die Schweizer diskutieren, ob das knapp 4000 Meter hohe Agassizhorn weiter nach dem Rassisten Louis Agassiz heißen soll.
In Kapstadt entfernte die Uni nach Protesten eine Büste des Rassisten Cecil Rhodesund die Stadt Barcelona fordert von Madrid, das Denkmal des Blas de Lezo y Olavarrieta abzureißen. Der Seemann hat 1714 ein Kriegsschiff gegen die katalanische Hauptstadt geführt.
Würzburg ändert seit Jahrhunderten seine Straßennamen
Die Würzburger ändern seit Jahrhunderten ihre Straßennamen. Die Augustinerstraße hieß Ritterstraße, die Landwehrstraße Armesündergasse, die Korngasse Pfistergasse, die Theaterstraße Adolf-Hitler-Straße, die Grombühlstraße Horst-Wessel-Straße; es gibt Dutzende Beispiele.
Der Paderborner Historiker und Kulturwissenschaftler Professor Rainer Pöppinghege forscht zur Erinnerungskultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Er beschreibt Straßennamen als „höchst subjektive Angelegenheit, die (…) in früheren Zeiten nicht unbedingt die Bevölkerungsmehrheit reflektierte“.
Hätten die Bürger etwas zu sagen gehabt, hieße die Wredestraße nicht Wredestraße
Ein Beleg dafür ist die Wredestraße in der Zellerau. Karl Philipp Fürst von Wrede war Generalfeldmarschall der königlich-bayerischen Armee. Im Oktober 1813 ließ er drei Tage lang das von napoleonischen Truppen besetzte Würzburg beschießen und beträchtlichen Schaden in der Stadt anrichten.
Im zweiten Band von „Geschichte der Stadt Würzburg“ berichtet der Historiker Professor Wolfgang Weiß, die Würzburger seien „ziemlich verbittert gewesen“. Sie hätten in der Kanonade keinen militärischen Nutzen, vielmehr eine Rache Wredes gesehen, weil sie ihn und den bayerischen Kurfürsten 1805 wenig untertänig in der Stadt empfangen hatten.
Weiß schreibt, die Erinnerung an Wrede habe Jahrzehnte später noch die Gemüter der Würzburger erregt. Und dennoch benannten die Stadtoberen eine Straße nach ihm.
Straßennamen spiegeln Machtverhältnisse wider, nicht Geschichte
Pöppinghege meint, zum „Opfer diktatorischer Propagandaleistungen“ werde, wer Straßennamen für „unantastbare Quellen der Geschichte“ hält. Er beschreibt sie als „historische Werturteile früherer Generationen“. Sie zeigten frühere Wertehorizonte und seien das Resultat von Machtverhältnissen.
Etwa 90 Prozent aller Straßen mit Personennamen seien Männern gewidmet; sie bezögen sich auf Persönlichkeiten adeliger, groß- und bildungsbürgerlicher Herkunft.
Der Obrigkeit ablehnend bis feindlich gesinnte Bewegungen wie die bürgerliche Revolution von 1848 seien kaum vertreten. Straßennamen, meint der Historiker, repräsentieren nicht die Geschichte einer Kommune: Sie „zeigen nicht, was eine Stadt war, sondern was eine Stadt sein will“.
Im Oktober beschloss der Stadtrat, eine Kommission zur Prüfung von Straßennamen und Ehrungen einzurichten, besetzt mit sechs Historikern, vier Ratsmitgliedern und dem Kulturreferenten. Sie ist die Folge derBerichterstattung unserer Redaktion über Würzburgs OB von 1956 bis 1968, Helmuth Zimmerer. 1985 hatte der Stadtrat – ebenfalls einstimmig – eine Straße nach ihm benannt, obwohl einige, wenn nicht alle Ratsmitglieder von Zimmerers NS-Vergangenheit wussten.
Zimmerer war SS-Mann gewesen, Rechtsberater einer SS-Standarte und Autor einer rassistischen Doktorarbeit, von der er sich später ausdrücklich nicht distanzierte.
Im Juli 2015 benannte der Stadtrat die Helmuth-Zimmerer-Straße um. Neuer Namenspatron ist der Nazi-Gegner Georg Angermaier.
Der komplizierte Fall des Nazi- und Judenfreundes Richard Strauss
So eindeutig wie im Fall Zimmerer ist die Faktenlage allerdings selten. 2012 beauftragte die Stadt Oldenburg Historiker von der Carl-von-Ossietzky-Universität, Straßennamen auf mögliche Verstrickungen mit dem nationalsozialistischen Regime zu untersuchen.
Knapp zwei Jahre später legten die Wissenschaftler ihre Studie vor. Auf einer ersten Liste standen die Namen von 199 Personen; 125 schlossen die Historiker als unverdächtig aus. Unter den 74 verbliebenen ist einer, nach dem auch in Würzburg eine Straßen heißt: der Komponist Richard Strauss.
Der Fall Strauss zeigt, wie schwierig eine Bewertung ist.
Die Wissenschaftler vom Institut für Geschichte der Oldenburger Uni halten ihn für den „umstrittensten deutschen Komponisten“. Sie fassen zusammen: Strauss' Werke zwischen 1933 und 1945 seien „systemstabilisierend“ gewesen. Er habe „linientreue Reden“ gehalten und sei „den politischen Entwicklungen mit Ignoranz oder gar weitgehender Akzeptanz begegnet“.
Andererseits sei er angefeindet worden wegen seiner Verbindung zu jüdischen Künstlern und der jüdischen
Herkunft seiner Schwiegertochter.
Warum Historiker die Debatten nicht dominieren können
Historiker analysieren Handlungen und bieten Erklärungen an. Bewerten sie Handlungen, schreibt Pöppinghege, wenden sie eigene ethische, moralische und normative Wertmaßstäbe an. Aus diesem Grunde könnten Geschichtsforscher die Debatte um „erinnerungskulturelle“ Werte nicht dominieren.
Prominentes Beispiel ist der Streit um den Hindenburgplatz in Münster. Im März 2012 benannten Münsters Stadträte ihn um, nach einer 16 Jahre langen Debatte.
Der erklärte Demokratie-Feind Paul von Hindenburg war Chef der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg. 1933 machte er als Reichspräsident Adolf Hitler zum Kanzler – „ohne zwingenden Grund“, teilte das Stadtarchiv Münster den Diskutanten mit.
Den Ausschlag geben nicht Fachleute, sondern Fernsehstars
Trotzdem organisierten Münsteraner einen Bürgerentscheid gegen die Umbenennung des Hindenburgplatzes.
Pöppinghege berichtet: „Dort konnten Bataillone von Historikern aufmarschieren und vergebens Belege für Hindenburgs verhängnisvolle Rolle vor und nach 1933 ausbreiten“ – die Mehrheit der Bevölkerung habe sich erst von ihm distanziert, als „münsterische Populär-Ikonen“ wie Roland Kaiser, Götz Alsmann und der ZDF-Detektiv Wilsberg für den neuen Namen Schlossplatz warben.
Die Debatte um die Umbenennung der Helmuth-Zimmerer-Straße ist im bundesweiten Vergleich ungewöhnlich friedfertig verlaufen. Eskalierende Leidenschaften, verbunden mit persönlichen Attacken und Diffamierungen, wie 2003, als der Stadtrat der Carl-Diem-Halle ihren Namen nahm,sind die Regel.
Mitten hinein in das Selbstverständnis der Stadt
Das „scheinbar nachrangige Thema“ Straßennamen führt nach Pöppinghege „geradewegs ins Zentrum des Selbstverständnisses einer Stadt und des individuellen Geschichtsbewusstseins“. Das Umbenennen rühre an Identitätsfragen.
"Straßennamen zeigen nicht,
was eine Stadt war,
sondern was eine Stadt sein will."
Rainer Pöppinghege, Historiker
In den Debatten offenbaren sich auch politische Haltungen und Anliegerinteressen. In Kassel drückt sich die Stadt mit Verweis auf unklare Zuständigkeiten, im nordrhein-westfälischen Menden klagen Anwohner gegen die Umbenennung, weil sie ihre Argumente nicht ausreichend gewürdigt sehen.
In Oldenburg ist nach dreijähriger Auseinandersetzung beinahe alles beim Alten geblieben, sogar die Hindenburgstraße hat ihren Namen behalten.
Nur die Hedwig-Heyl-Straße, benannt nach einer rassistischen Frauenrechtlerin, wurde umbenannt. Sie heißt jetzt Hilde-Domin-Straße.
Ein Kriterium fürs Ehren mit einem Straßennamen: das Achten der Menschenwürde
Pöppinghege hält die Benennung von Straßennamen nach Personen „in jedem Fall“ für eine Ehrung. Er meint, jeder Generation müsse belassen bleiben, „die eigenen Wertmaßstäbe mit jenen auf den Stadtplänen abzugleichen“.
Als Kriterium schlägt er vor zu klären, ob der Namenspatron die Menschenwürde geachtet hat.
Rassismus, Antisemitismus „und andere Scheußlichkeiten“ seien auch in früheren Epochen kein „handlungsleitender Standard“ für alle gewesen. Das Umbenennen einer Straße bedeute, dass „Geschichtsbilder“ nicht getilgt, sondern aktualisiert würden. Das Beibehalten „von Straßennamen dagegen schreibt Geschichtsbilder fort.“
Nebenbei: Eine Namensänderung ist organisatorisch und logistisch wie ein Umzug. Weder Kommission noch Stadt zahlen diese immensen Kosten.
;-)
Über das eigenartige Nebeneinander in diesem Satz, der die Namensänderung als etwas völlig Alltägliches darstellen will, wundere ich mich doch. Aber Herr Jung zieht ja gerne mal etwas eigenartige Parallelen in seinen Reportagen. Die Motive sollten doch die gleichen sein, wenn es schon "Jahrhunderte" sein müssen, aber das funktioniert eben schlecht.