An diesem Mittwoch ist der dritte Verhandlungstag im Prozess gegen einen Würzburger Logopäden. Der 38-Jährige ist in 66 Fällen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von behinderten Kindern angeklagt. Er gestand, dass er teilweise die Kinder dabei gefilmt hat. Was macht das mit den Eltern, die den Prozess verfolgen? Elisabeth Kirchner, psychologische Psychotherapeutin und Mitarbeiterin bei Wildwasser Würzburg, Verein gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Frauen, erläutert die unterschiedlichen Reaktionen und Verarbeitungsmöglichkeiten und informiert über Unterstützungsangebote.
Elisabeth Kirchner: Da die schreckliche Nachricht ein Jahr zurückliegt, werden die Gefühle nicht mehr in der Intensität des Schocks aufgewühlt wie im ersten Moment. Damals waren die Beschuldigungen, die gegen den Logopäden im Raum standen, so unfassbar und neu. Aber natürlich wird jetzt alles wieder hochgeholt und kann sich erneut unerträglich anfühlen.
Kirchner: "Wegpacken" kann vor dem Gefühl der Ohnmacht schützen. Bei vielen Eltern ist ein Gefühl der Hilflosigkeit entstanden, weil ihre betroffenen Kinder nicht sprechen und sich mitteilen konnten. Sie wussten vorher nicht, warum ihr Kind beispielsweise so verstört reagiert. Ebenso groß ist auch die Wut darüber, was dem Sohn, was der Familie angetan worden ist. Und diese heftigen Gefühle kann man manchmal nicht aushalten oder an sich heranlassen und schweigt lieber oder schiebt sie weg.
Kirchner: Jeder Mensch reagiert individuell anders. Es ist sehr wichtig, dass das nicht bewertet, sondern akzeptiert und respektiert wird. Wenn Eltern sich damit auseinandersetzen möchten, ist das ihre Entscheidung. Sie wollen konfrontieren: "Das hast du unserem Kind, unserer Familie angetan." Sie wollen am Prozess teilnehmen und hören, was der Beschuldigte zu sagen hat. Sie wollen begreifen, was mit ihren Kindern passiert ist, und benennen, was die Folgen sind.
Kirchner: Bekannt ist, dass es schwerer sexueller Missbrauch ist. Aber es ist etwas anderes, wenn man den Begriff "nur" hört oder ob man Details weiß.
Kirchner: Wer den Prozess direkt oder über die Medien verfolgt, sollte professionelle oder familiäre Unterstützung haben und sich dem nicht alleine aussetzen. Wichtig ist, auf sich zu achten: Was will ich wirklich hören? Was nicht? Was brauche ich danach?
Kirchner: Selbstverständlich können Kinder eine Psychotherapie machen und Eltern sie dabei unterstützen, die erlittene Gewalt aufzuarbeiten. Bei behinderten Kindern ist das aber etwas schwieriger. Sätze wie: "Du bist jetzt sicher. Du musst nicht mehr zu ihm gehen. Er darf dich nicht mehr anfassen" kann man allen Kindern sagen, auch wenn sie selbst nicht sprechen können oder die Sprache auch nicht verstehen. Neben den Worten wird auch Nonverbales vermittelt, etwa ein Gefühl der Sicherheit durch die Eltern. Zudem können auch Kinder, die nicht sprechen können, ihre Gefühle ausdrücken. Wir unterstützen Eltern, wenn sie nicht wissen, wie sie reagieren können, etwa wenn ihr Kind aggressiv ist und sie nicht wissen, wie sie damit, wie die Jungen ihre Not zeigen, adäquat umgehen sollen.
Kirchner: Sie sind ebenfalls Opfer. Ihnen wurde die Familie genommen. Normalerweise versucht man traumatisierten Kindern das Umfeld zu erhalten, in dem sie sich bewegen. Aber das ist bei ihnen nicht möglich gewesen. Und sie mussten auch die Kita verlassen, wo ihr Vater und der Angeklagte tätig waren. Opfer sind aber auch alle, die in der Einrichtung gearbeitet haben.
Kirchner: Weil sie dem Angeklagten vertraut haben. Und er hat sie zutiefst getäuscht. Generell muss man aber sagen, dass die Kolleginnen und Kollegen in der Kita anders betroffen sind als die missbrauchten Kinder. Das möchte ich differenzieren.
Kirchner: Man spricht von sekundärer Traumatisierung, wenn Personen, die mit diesen Taten konfrontiert werden, unter Umständen die gleichen Folgen haben wie direkt Betroffene. Sie werden zum Beispiel die Bilder im Kopf nicht mehr los.
Kirchner: Es gibt keinen hundertprozentigen Schutz vor sexuellem Missbrauch - aber Möglichkeiten der Prävention in Form von Schutzkonzepten. Die Kitas müssen sich mit diesem Thema auseinandersetzen, den Täterstrategien. Was machen wir im Verdachtsfall? Wichtig ist eine Kultur der Transparenz, dass über Dinge, die nicht in Ordnung sind, offen gesprochen werden kann; ebenso ein "gesundes Misstrauen" zu haben und nicht allen Menschen blind zu vertrauen. Es gibt leider Menschen, die nutzen die Situation aus. Gleichzeitig möchten Einrichtungen wieder Vertrauen herstellen. Das ist eine Gratwanderung. Aber Eltern müssen ein gutes Gefühl haben, wenn sie ihre Kinder in der Kita abgeben.
Die Würzburger "Berufsgruppe gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen" ist ein Kooperationskreis verschiedener Beratungsstellen, Organisationen und Institutionen. Zur Gruppe gehören unter anderem Wildwasser, "pro familia" und Erziehungsberatungsstellen. Info unter www.berufsgruppegegensexuellegewalt.de