Der Mann, der an jenem Sonntagnachmittag im Oktober 2010 forschend das Ufer der beiden Erlabrunner Seen absucht, hat ein sehr spezielles Interesse: Er sucht nach illegalen Legeschnüren oder Reußen von Schwarzanglern. Die sind dem Sportanglerverein aus Erlabrunn (Lkr. Würzburg) ein Dorn im Auge. Der Verein hat das Fischrecht gepachtet, Schwarzangeln ist nicht gern gesehen.
Das Gewässer der idyllischen Naherholungsanlage, an dem sich im Sommer bis zu 10 000 Badegäste tummeln, liegt still und friedlich in der Herbstsonne. Vom nahen Sportplatz klingt der Lärm eines Fußballspiels herüber. Plötzlich sieht der Mann etwas Ungewöhnliches im Wasser schimmern. Etwas Weißes. Er tritt näher, versucht, mit einem Ast seinen Fund näher an das Ufer heranzuholen – und ist geschockt: Im Wasser schwimmt ein abgetrennter Arm.
Per Handy informiert er die Polizei, noch am Abend beginnt die Kripo Würzburg mit ihren Ermittlungen. Was sie relativ schnell weiß: Es handelt sich vermutlich um das Leichenteil einer Frau, das noch nicht lange im Wasser gelegen hatte.
Suche im Naherholungsgebiet
Am Montagmorgen startet eine große Suchaktion mit Tauchern und speziell ausgebildeten Leichenspürhunden. Als die Suche beginnt, wabern bereits Gerüchte umher: Von einer vermissten Frau aus einer Nachbargemeinde ist die Rede, während sich die Polizei mangels gesicherter Erkenntnisse mit Informationen zurückhält. Das Naherholungsgebiet, das sonst um diese Jahreszeit allenfalls einmal von Radlern passiert wird, steht plötzlich voller Polizeifahrzeuge. Der Radweg neben dem See ist gesperrt. Taucher machen Boote bereit. Im Radio und Internet kursieren erste Nachrichten vom Fund der Leichenteile. Am Vormittag werden weitere Leichenteile sowie ein weiblicher Torso entdeckt.
Ein Loch im Zaun direkt am Maintalradweg könnte jener Ort gewesen sein, an dem die Leiche auf das Gelände geschafft worden war. Diese Seite des Sees ist Naturschutzgebiet und schwer zugänglich. Die Anlage wird um diese Jahreszeit morgens um 7 Uhr geöffnet und abends mit Anbruch der Dämmerung abgeschlossen.
Ermittler versuchen, das Informationsbedürfnis zu kanalisieren, ohne die Suchmannschaften am See zu sehr in ihrer Arbeit zu behindern. Aber noch während sich gegen 9.30 Uhr Journalisten am TSV-Parkplatz für die improvisierte Pressekonferenz versammeln, überschlagen sich die Ereignisse: In der Ferne tönen Martinshörner, Feuerwehrfahrzeuge jagen am Tatort vorbei – Richtung der Erlabrunner Nachbarorte Leinach und Margetshöchheim.
Gerade waren die ersten Nachrichten zum Leichenfund verbreitet, da gibt es – nur wenige Kilometer entfernt – eine zweite Leiche: Ein Mann war an der nahen ICE-Strecke bei Leinach von einem der pfeilschnellen Züge erfasst worden. Der geschockte Zugführer bremst den ICE 783 aus Hamburg-Altona ab, der um 9.28 Uhr in Würzburg hätte ankommen sollte. Aber erst im zwei Kilometer langen Neuberg-Tunnel (kurz vor der ICE-Brücke über den Main bei Margetshöchheim) kommt der mit 600 Fahrgästen besetzte Zug zum Stehen – und blockiert für Stunden die ICE-Strecke.
Zugführer unter Schock
Die Passagiere müssen über zwei Stunden in der Ungewissheit ausharren. Zunächst erwägen die Retter, sie zu Fuß aus dem Tunnel zu evakuieren. Doch nur der Lokführer steht laut Polizeisprecher Schmitt „extrem unter Schock“. Für ihn muss ein Ersatzfahrer kommen, ein Notfallseelsorger bringt ihn nach Hause. Schließlich können die restlichen Fahrgäste im Tunnel in einen herbeigeorderten Zug umsteigen und werden an den Würzburger Hauptbahnhof gebracht.
Im Laufe des Tages werden Hinweise immer konkreter, dass es sich bei der Toten im Badesee um die 29-jährige L. aus dem nahen Hettstadt gehandelt hat, die am Sonntag von ihrem Ehemann Jens K. (30) bei der Polizei als vermisst gemeldet worden war. Dann wird plötzlich bekannt: Der Tote an der Bahnstrecke war ihr Ehemann, nicht weit von der Bahnstrecke steht sein roter Opel Vectra, darin Papiere, die auf den Halter hinweisen.
Ärger über Job im Rotlicht
Der Militärpolizist war am Bundeswehr-Standort Veitshöchheim stationiert und gerade vom Auslandseinsatz aus Afghanistan zurückgekommen. Ermittler erfahren, dass Jens K. die Tätigkeit seiner Frau als Tänzerin in einer Würzburger Rotlicht-Bar missfallen hatte, sie hatte ihm eigentlich versprochen, damit aufzuhören – und dann während seines Afghanistan-Einsatzes doch weitergemacht. Deshalb sei von Trennung die Rede gewesen, berichten Freunde des Paares.
Offenbar beging der Ehemann Suizid, nachdem er am Montagmorgen vom Auffinden der Leichenteile und den polizeilichen Ermittlungen aus den Medien erfahren hatte. Dann kommen immer mehr Details heraus, die das Bild abrunden. Die Obduktion ergibt „mehrere Stichverletzungen, die todesursächlich waren“. Wo die Frau umgebracht und in Teile zerlegt worden ist, wird nie bekannt.
Die Frau hatte einige Jahre zuvor im Prozess gegen einheimische Rotlicht-Barone als Zeugin eine wichtige Rolle gespielt. Dabei soll ihr gedroht worden sein, ihrem Ehemann zu verraten, dass ihre Tätigkeit in dem Bordell nicht nur aus Tanzen bestand, sagen zwei Insider.
Jens K. war mit seiner Frau sechs Jahre zuvor aus Sachsen nach Unterfranken gekommen – und Nachbarn des Paares sagen: Der letzte Einsatz in Afghanistan habe ihn verändert, auch die unmittelbare Erfahrung vom Tod von Kameraden im gemeinsamen Einsatz. Intensiver als zuvor habe ihn „das gesehene Leid sehr mitgenommen“.
Dass die 29-jährige – immer dann, wenn er im Ausland war – als Animierdame arbeitete, galt als offenes Geheimnis. Was der Ehemann davon mitbekam, ist ungewiss. „Wenn er zurückkam von den Einsätzen, dann war das hier wieder eine ganz normale und sehr nette Familie“, berichten die Nachbarn.
Bizarre Szenen im Bordell
Für die Ermittler ist es ärgerlich, dass darüber schnell und öffentlich spekuliert wird. Da lässt sich nicht mehr viel aufklären, ob gedroht oder eine Drohung wahr gemacht wurde. In der Tanzbar mit Bordell, in der die Frau arbeitete, geben sich in den nächsten Tagen die Journalisten die Tür in die Hand – und berichten von „gewöhnungsbedürftigen Szenen“: Eine Frau aus dem Betrieb empfängt Reporter mit einer Kontonummer. Ob man ein Bild von der Verstorbenen veröffentlichen möchte, fragt sie, für eine dreistellige „Spende“ für den hinterbliebenen Sohn des toten Paares sei das möglich. Auch der Chef des Betriebs gibt zu verstehen, er sei gewillt über die Beziehung der 29-Jährigen zu seinem Betrieb Auskunft zu geben – ebenfalls für eine „Spende“ zugunsten des achtjährigen Sohnes der Ermordeten.
Kern der Beweiskette
Für die Ermittler gilt der Fall als geklärt. Kern ihrer Beweiskette ist der zeitliche Ablauf: Die Obduktion lässt darauf schließen, dass die zerstückelte Leiche der Frau schon seit Freitagnacht im See lag. Aber erst am Sonntag hatte der Ehemann seine Frau vermisst gemeldet. Am Montag hatte er sich umgebracht: als der Leichenfund in den Medien gemeldet wurde – aber noch keiner die Identität der Toten kannte.
Danach wabern noch monatelang alle möglichen Spekulationen durch Unterfranken, dass sie von jemand anderem umgebracht wurde und sich der Ehemann aus Gram vor den Zug warf. „Aber man muss es nicht unnötig kompliziert machen,“ sagte dazu einer der Ermittler: „Woher hätte der Ehemann wissen sollen, dass die Leiche im See seine Frau ist, wenn er sie nicht selbst dort versteckt hat?“