Lieber Herr Engels, als wir neulich beisammen saßen und über unvergessliche Erlebnisse mit Musik schwärmten, wurde mir wieder einmal klar, wie unersetzbar das echte Konzerterlebnis ist. Auch und gerade in Zeiten unendlicher Verfügbarkeit elektronischer Medien. Natürlich mag es bequemer sein, ein Konzert oder eine Oper daheim auf dem Sofa zu genießen, als sich in Schale zu werfen, womöglich an der Kasse anzustehen und den Abend dann eingepfercht hinter einer Dame mit Hochsteckfrisur und/oder neben einem Herrn mit der Statur eines mehrtürigen Kleiderschranks zu verbringen. Und man bekommt ja auch nicht immer Eintrittskarten.
Eng kann's schon mal werden, besonders an der heiligste Stätte klassischer Kulturpflege überhaupt: im Festspielhaus Bayreuth. Glücklicherweise geht es andernorts längst viel komfortabler und entspannter zu. Im Großen Saal der Hochschule für Musik Würzburg zum Beispiel, in dem seit vielen Jahrzehnten die Meisterkonzerte der Musikalischen Akademie stattfinden. Aber wer weiß das besser als Sie, langjähriger Würzburger Kulturamtsleiter und vor allem Vorsitzender der Musikalischen Akademie, lieber Herr Engels?
Während Riesen-Open-Air-Events Zigtausende locken, tut sich klassische Kammermusik schwer
Ich habe hier viele wunderbare Abende verbracht. Besonders als Musikstudent war ich dankbar für die Möglichkeit, Solisten und Kammermusiker von Weltrang live erleben zu können. Es waren nur ein paar Schritte aus dem Übezimmer rüber in den Saal, und ich konnte phänomenale Auftritte etwa des Emerson String Quartet oder von Jacques Loussier erleben. Oder jenes Konzert, als dem Geiger Rainer Kussmaul einfach so der Bogen brach. Selten habe ich ein verdutzteres Gesicht auf einer Konzertbühne gesehen. Dass Kussmaul das Konzert mit einem Ersatzbogen so kaltblütig wie bravourös zu Ende brachte, war im übrigen auch ganz schön eindrucksvoll.
All sowas erlebt man nur live. Dafür gibt es keinen Ersatz. Auch nicht in HD. Und doch plagen viele Programmgestalter Sorgen. Denn während Riesen-Open-Air-Events wie Beethovens Neunte am Brandenburger Tor Zigtausende locken, tut sich klassische Kammermusik im Saal schwer. Der Quartettabend, vor wenigen Jahrzehnten noch die Königsdisziplin, ist heutzutage eher was für hartgesottene Spezialisten.
In ihrer Funktion als Vorsitzender der Musikalischen Akademie und damit Programmverantwortlicher der Meisterkonzerte kämpfen Sie, lieber Herr Engels, mit genau diesem Phänomen: Es gibt zwar ein treues Stammpublikum, doch es altert gemeinsam, während der Nachwuchs sich rar macht. Klassik gratis und draußen gerne. Aber drinnen ist das doch eher uncool.
Was sicher auch an den alten Klassik-Klischees liegt: langweilig, steifleinern, akademisch, schwierig, anstrengend. Diese Vorurteile haben übrigens noch nie gestimmt – zumindest nicht generell. Natürlich gibt es langweilige Klassik-Konzerte, so wie es auch langweilige Rock- oder Jazzkonzerte gibt. Ohne jetzt zu sehr abzuschweifen, sei hier nur angemerkt, dass die Unterscheidung in E- und U-Musik sowieso Unfug ist. Oder, um einmal mehr den großen Leonard Bernstein zu zitieren: "Es gibt nur gute Musik und schlechte."
Vielleicht ist es ja wie auch sonst im Leben: Es muss eine Krise her, damit etwas Neues entsteht
Dennoch, das Problem besteht: Es kommen zu wenige Besucher in die Meisterkonzerte. So wenige, dass der Fortbestand der Reihe gefährdet ist, wie Sie mir neulich im Gespräch gesagt haben, Herr Engels. Dabei ist vieles, was die Meisterkonzerte anbieten, durchaus cool. Dass Sie die Finger von halbgaren Crossover-Projekten lassen, wie sie derzeit so schwer in Mode sind, halte ich übrigens für eine besondere Qualität.
Sie haben sich jetzt eine Dreijahresfrist gegeben, um neue Ansätze für die Meisterkonzerte zu entwickeln. Vielleicht ist es hier ja wie auch sonst im Leben: Es muss erst eine Krise her, damit etwas Neues entstehen kann. In diesem Fall vielleicht das Konzert der Zukunft? Es gibt sie ja, die Ensembles, die mit neuen Ideen begeistern. Das Vision String Quartet, das in der vergangenen Saison zu Gast war, zum Beispiel. Da spielen die Musiker auswendig und im Stehen (nur der Cellist natürlich nicht), was der Vitalität und Spontaneität des Auftritts entgegenkommt. Kaum zu glauben, dass die Gattung über 200 Jahre alt werden musste, bevor jemand auf diese Idee kam.
Das Vision String Quartet hat auch in Würzburg den Saal gerockt, der halt leider halb leer war. Es wird also sicher ein wenig dauern, bis sich herumspricht, dass bei den Meisterkonzerten Zukunftsmusik im besten Sinne gespielt wird. Ich jedenfalls kann es kaum erwarten.
Mit besten Grüßen, Mathias Wiedemann, Redakteur
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