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Würzburg
Neun Jahre nach dem Tod seiner Schwester: Tuğçes Bruder setzt sich aktiv gegen Gewalt ein - und erzählt davon in Würzburg
Nach ihrem Tod in 2014 wurde Tuğçe Albayrak zum Symbol für Zivilcourage. Wie ihr Bruder Doğuş das Geschehene verarbeitet hat und warum er diese Woche nach Würzburg kommt.   
Bilder und Kerzen vor dem Klinikum Offenbach am Main, in dem die 22-jährige Tuğçe Albayrak im November 2014 an den Folgen eines gewaltsamen Angriffs starb. 
Foto: Archivbild dpa/Boris Roessler | Bilder und Kerzen vor dem Klinikum Offenbach am Main, in dem die 22-jährige Tuğçe Albayrak im November 2014 an den Folgen eines gewaltsamen Angriffs starb. 
Katja Glatzer
 |  aktualisiert: 08.02.2024 11:15 Uhr

Es ist ziemlich genau neun Jahre her, dass die damals 22-jährige Tuğçe Albayrak für ihr couragiertes Eingreifen mit dem Leben bezahlen musste. Weil sie versucht hatte einen Streit zu schlichten, war sie am 15. November 2014 auf dem Parkplatz eines Schnellrestaurants in Offenbach am Main von einem jungen Mann niedergeschlagen worden. Bei dem dadurch verursachten Sturz erlitt sie schwere Schädelverletzungen. Nachdem Ärzte den Hirntod von Tuğçe festgestellt hatten, ließen ihre Eltern am 28. November, dem 23. Geburtstag ihrer Tochter, die lebenserhaltenden Maschinen im Klinikum Offenbach abschalten.

Seitdem ist viel passiert. Diese Redaktion hat mit Tuğçes Bruder Doğuş Albayrak gesprochen, der nach dem Tod seiner Schwester einen Verein gegründet hat, um ihr Andenken zu bewahren und junge Menschen zum Thema Zivilcourage zu schulen. An diesem Freitag, 24. November, wird der heute 34-Jährige, der in Bad Soden-Salmünster aufgewachsen ist und heute in Frankfurt am Main lebt, in Würzburg zu Gast sein und im Landratsamt zum Tag gegen Gewalt gegen Frauen sprechen.

Frage: Herr Albayrak, wie geht es Ihnen heute, wenn Sie an Tuğçes Tod in 2014 denken?

Doğuş Albayrak: Es ist immer noch sehr sehr emotional, wenn ich an 2014 denke. Ich habe damals das erste Mal den Tod hautnah erlebt und das mit der Kleinsten in unserer Familie. Selbst meine Großeltern waren noch am Leben. Das ist einfach nicht der normale Lauf des Lebens und tut unglaublich weh. Aber natürlich sind auch neun Jahre seit dem Tod meiner Schwester vergangen. Die Trauer ist immer da, aber ich weiß inzwischen damit zu leben. Viel schwieriger hat es meine Mama. Wenn ich ihr heute in die Augen sehe, sehe ich nicht mehr die lebendigen Augen aus der Zeit vor Tuğçes Tod. Das ist sehr traurig.

Finden Sie es wichtig, dass Ihre Schwester Zivilcourage gezeigt hat? 

Albayrak: Zivilcourage ist sehr wichtig, leider ist es meistens so, dass man sie erst mitbekommt, wenn etwas Schlimmes passiert. Ich denke da neben meiner Schwester zum Beispiel an den Fall Dominik Brunner, Fabian Salar oder an Jonny K.. Klar kommt auch der Gedanke, "jetzt bis du tot, hättest du dich bloß nicht eingemischt". Aber Zivilcourage ist eines der Fundamente, damit Demokratie funktioniert. Meine Schwester ist nicht der Typ gewesen, der die Augen verschließt und einfach vorbeigeht. Sie lebte auch für die Gesellschaft. Das macht mich als Bruder stolz. So wurden auch auf ihren Wunsch hin nach ihrem Tod ihre Organe gespendet.

Tuğçes Bruder Doğuş Albayrak leistet mit seinem Verein Präventivarbeit.   
Foto: Manuel Schröder | Tuğçes Bruder Doğuş Albayrak leistet mit seinem Verein Präventivarbeit.   
Der Fall Tuğçe hat deutschlandweit und über die Grenzen hinaus Aufsehen erregt. Wie haben Sie das empfunden?

Albayrak: Der Tod von Tuğçe wurde medial so aufgegriffen, dass es für unsere Familie sehr zwiespältig war. Es war schwer überall die Bilder der eigenen Schwester zu sehen und plötzlich kursierte auch ein Video der Tatnacht im Netz. Auf der anderen Seite ist auch viel Schönes passiert, es gab deutschlandweit Mahnwachen für meine Schwester und vor dem Krankenhaus, in dem Tuğçe lag, hatten sich Unterstützer versammelt. Auch Prominente und Politiker drückten ihr Beileid aus. An der Beerdigung meiner Schwester nahmen tausende Menschen teil. Das alles hat uns in der tiefen Verzweiflung auch ein Stück weit Kraft gegeben.  

Wie war für Sie die Zeit danach? Und wie kam der Entschluss den Verein "Tuğçe Albayrak e.V." zu gründen?

Albayrak: Auch aufgrund des großen medialen Interesses mussten wir uns als Familie entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen. Sprich den stillen Weg für uns, um mit der Trauer leben zu lernen oder den, aus dem Geschehenen etwas Positives zu schaffen. Mein Impuls war es, Tuğçes Strahlkraft zu nutzen und ihr Andenken zu erhalten. Ich gründete 2015 den Verein "Tuğçe Albayrak e.V.".  Auch neun Jahre später spüre ich, wie viele Menschen ihr Schicksal berührt hat. Sie ist heute ein Stück weit Symbolfigur für Zivilcourage. Der Verein möchte dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche gegen Gewalt eintreten und für ein friedliches Miteinander. Momentan sind wir dabei auch ein Vereinshaus in Frankfurt einzurichten, das am 28. November 2023, pünktlich zu Tuğçes Geburtstag, eröffnet werden soll. Es soll ein Ort der Begegnung sein.

Das klingt gut. Welche Aktivitäten bietet der Verein genau an? 

Albayrak: Auf der einen Seite haben wir uns an Tuğçes Fall orientiert und das Thema Zivilcourage aufgegriffen. Andererseits gehen wir die Themen Gewalt und neu auch Gewalt gegenüber Frauen an. Wir sensibilisieren mit Bewegung, Kultur und Bildung. In unseren Workshops an Schulen - in denen auch mit Theaterpädagogik gearbeitet wird - wollen wir, dass Kinder und Jugendliche erlernen, wie sie sich vor dem Magnetfeld eines Täters schützen, und intervenieren können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Da spielen Dinge wie Körpersprache, Wortwahl oder auch Handynutzung, um Hilfe zu holen, eine große Rolle. Wir bieten die Workshops für Schulkassen ab der vierten Klasse an.  

Sie haben auch einen Charity-Lauf eingerichtet, der ziemlich erfolgreich ist?

Albayrak: Ja, denn durch Sport erreichen wir viele Menschen. So gibt es seit einigen Jahren in meinem Heimatort Bad Soden-Salmünster den Charity-Lauf "Spessarthelden" zum Gedenken an Tuğçe. Wir laufen gegen Gewalt und für Vielfalt und arbeiten da auch mit dem Deutschen Leichtathletenverband zusammen. Abends spielen Rockbands und es ist ein schönes Miteinander. Inzwischen ist der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff Schirmherr des Charity-Laufs. Den Lauf würde ich gerne auch in anderen Städten etablieren. Das wäre ein tolles Signal.  

Das neue Vereinshaus des 'Tuğçe Albayrak e.V'  in Frankfurt soll bald eröffnet werden und unter anderem Begegnungsstätte sein.
Foto: Doğuş Albayrak | Das neue Vereinshaus des "Tuğçe Albayrak e.V"  in Frankfurt soll bald eröffnet werden und unter anderem Begegnungsstätte sein.
Sie kommen an diesem Freitag, 24. November, ins Landratsamt nach Würzburg. Was wird hier Ihr Thema sein? 

Albayrak: Ich wurde von der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Würzburg zum Tag gegen Gewalt gegen Frauen eingeladen. Anhand des Schicksals meiner Schwester werde ich aufzeigen, wie dieses schlimme Ereignis eine positive Transformation für die Gesellschaft erfahren hat. Zudem widmen wir uns im "Tuğçe-Verein" nun neben dem Thema Gewalt insbesondere der Gewalt gegen Frauen. Erst kürzlich hatten wir dazu eine Podiumsdiskussion. Auch würden wir künftig gern mit diesem Thema an Schulen gehen und die Geschlechterrollen mit den Kindern und Jugendlichen diskutieren. Damit könnten wir dazu beitragen, kulturelle Konflikte um eine "vielleicht falsch verstandene Männlichkeit" oder auch Missverständnisse aufzulösen.      

Zuletzt noch eine Frage Herr Albayrak: Hilft Ihnen Ihr großes gesellschaftliches Engagement auch, Ihre Trauer um Tuğçe besser zu verarbeiten?

Albayrak: Ich bin kein Psychologe. Aber es steckt bestimmt auch ein Stück Trauerbewältigung dahinter. Es ist ein schönes Gefühl, wenn sich im Namen meiner Schwester Menschen Kompetenzen aneignen, die Gewalt verhindern. Ich denke aber auch an unsere Gesellschaft und sehe die vielen Probleme. Ich glaube, da kann das Symbol Tuğçe mit ihrer Strahlkraft viel bewirken. Das macht mich stolz. Ein bisschen fühlt es sich auch an, als könnte ich das, was ich mit meiner kleinen Schwester noch alles erleben wollte, damit auffüllen.

Die Kommunale Gleichstellungsstelle des Landkreises Würzburg lädt zur Veranstaltung "NEIN zu Gewalt an Frauen" am Freitag, 24. November von 11.15 bis 15.30 Uhr ein, der Vortrag von Albayrak ist für etwa 13.15 Uhr angesetzt. Keine Anmeldung erforderlich. Mehr Infos zu den Aktivitäten des Vereins und Spendenmöglichkeiten unter www.tugce-albayrak.de sowie www.spessarthelden.com.

 
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