
Am 3. November 1938 erfährt Herschel Grünspan, ein 17-jähriger jüdischer Pole, dass seine Familie hungernd und frierend im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen festsitzt, ausgewiesen von den einen, ausgestoßen von den anderen. Am Morgen des 7. November schießt er in Paris in der deutschen Botschaft den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath nieder.
Am Abend des 9. November unterbricht Propagandaminister Goebbels in München eine Feier zum Putschversuch am 9. November 1923. Er berichtet, Rath sei an den Verletzungen gestorben. Hitler habe entschieden, die Partei organisiere jetzt keine Demonstrationen, verhindere aber auch keine. Seine Zuhörer, unter ihnen Würzburgs Gauleiter Otto Hellmuth, verstehen. Hellmuth telefoniert nach Würzburg. Was dann geschah, hat der Historiker und Journalist Roland Flade in zahlreichen Veröffentlichungen beschrieben, zum Beispiel in "Der Novemberpogrom von 1938 in Unterfranken".
Mob plündert und zerstört Geschäfte von Juden
Die Nationalsozialisten sind gut organisiert. Zwischen 22 und 23 Uhr treffen sich Gestapo, SS und SA auf dem Residenzplatz. Neugierige schließen sich ihrem Zug durch die Innenstadt an. Der Mob plündert und zerstört Geschäfte jüdischer Würzburger in der Semmel-, Eichhorn-, Schönborn- und Domstraße und verwüstet die Synagoge in der Domerschulgasse. Nur, weil die Nachbarhäuser zu nahe stehen, verzichten die Marodeure darauf, sie abzufackeln.
Nach Mitternacht treffen sich auf dem Kickers-Platz in der Randersackerer Straße weitere 1000 Würzburger. Martin Neff, der Leiter der NSDAP-Ortsgruppe Süd, macht sie scharf: "Es kann alles gegen die Juden geschehen, nur darf es keine Toten geben!"
In drei Zügen marschieren sie los. Eine Gruppe zieht durch die Randersackerer, Flora-, Heidingsfelder, Uhland- und Rückertstraße und randaliert in den Häusern der Familien Neustätter und Meier. Der zweite Zug zieht durch die Randersackerer, Arndt- und Neubergstraße, fällt in die Wohnungen der Familien Lilienfeld und Schwab ein, zerschlägt ihre Möbel, wirft Mobiliar auf die Straße und verbrennt es. Der dritte Zug marschiert in die Arndtstraße, um den Ludwig Oppenheim zu holen und sein Haus zu plündern. In Dreierreihen marschieren sie durch den nächtlichen Stadtteil, Einpeitscher brüllen: "Wer hat unsere Frauen und Kinder geschändet? Wer ist schuld an unserem Unglück?" Und der Chor antwortet: "Die Juden!" und "Juda verrecke!"
Brutale Gewaltanwendung
In der Scheffelstraße 5 zerren sie den Weinhändler Ernst Lebermann aus dem Bett, schleifen ihn im Nachthemd an Händen und Füßen über den Korridor und die Treppe hinunter, prügeln auf ihn ein, zwingen ihn, ihrem Zug voranzugehen und liefern ihn am Morgen im Gefängnis in der Ottostraße ab. Dort bricht Lebermann blutüberströmt zusammen. Einen Tag später stirbt er.

In der Bismarckstraße stürzt sich der Textilwarengroßhändler Alfred Katzmann aus dem Fenster, als die Nazis in seine Wohnung eindringen. Den Sturz überlebt er nicht.
Gestapo-Männer verhaften in der Rotkreuzsteige den Rechtsanwalt Karl Rosenthal, dann verwüsten Randalierer die Wohnung. Claire Rosenthal, Karls Gattin, entsetzt und erschüttert, muss den tobenden Mob dulden.
Synagoge wird angezündet
Auch in Heidingsfeld dringen die Marodeure in die Wohnungen ihrer jüdischen Nachbarn ein, prügeln und treten sie, zerschlagen ihre Einrichtungen und verbrennen ihren Besitz. In der Stegenturmgasse zündet der Pöbel um halb drei in der Nacht die Synagoge an.
Die Gestapo verhaftet 300 jüdische Würzburger, hält sie zunächst gefangen im Gefängnis in der Ottostraße und verschleppt sie dann in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald. Die Nazis lassen frei, wer sein Eigentum an Immobilien und Unternehmen an den Staat abgibt.
Unter den Entführten befindet sichKarl Rosenthal. Am 12. November erfährt seine Frau Claire, dass die Nazis ihn im KZ Buchenwald festhalten. Wie sie auf den Gedanken kommt, ihr Tod könne ihrem Mann in die Freiheit verhelfen, ist nicht klar. Dass sie es glaubt, schreibt sie in einem Abschiedsbrief an ihren Hausarzt: "Heute früh hat man mir auf der Polizei mitgeteilt, dass sie meinen lieben guten Mann forthaben. Ihr wisst, was das heißt. Vielleicht darf der Meinige dadurch heim." Dann bringt sie sich um.
Verschleppt in die Konzentrationslager
Die Nazis lassen ihren Mann tatsächlich frei. Alo Heuler, der Nachbar von unten, bekommt mit, wie Rosenthal nach Hause kommt: "In dem stürmischen Läuten, den freudigen Pfiffen und im warmen Klang der Stimme, die den Namen seiner Frau rief, war die Vorfreude einer geglückten Überraschung zu hören. Wusste er es nicht? Hatte man ihn tatsächlich entlassen, ohne ihm den Tod seiner Frau mitzuteilen?"
Der nazistische Mob hat im gesamten Reichsgebiet mehr als 1400 Synagogen und Betstuben sowie 7500 Geschäfte, Wohnungen und Gemeindehäuser von Juden zerstört. Von den 30 000 während des Novemberpogroms Inhaftierten bringen sie in den Konzentrationslagern mehr als 600 um.