
Den Tag im Februar 2024 wird der Würzburger Staatsanwalt Ingo Krist nicht vergessen: "Normalerweise rennt man hier im Gericht nicht, aber an dem Tag habe ich jeden Meter joggend zurückgelegt." In vier Stunden hatte Krist von Würzburg aus eine internationale Festnahme in Argentinien veranlasst - ein Prozess, der normalerweise länger als eine Woche dauert.
Das Ziel der Festnahme: einen damals 21 Jahre alten Würzburg zu schnappen. Die Ermittler hatten ihn im Visier, weil er offenbar seine Freundin zur Prostitution auf der Plattform "OnlyFans" gezwungen hatte.

Inzwischen wurde ihm in Würzburg der Prozess gemacht: Das Landgericht verurteilte den 22-Jährigen Mitte November wegen Zwangsprostitution zu einer Jugendstrafe auf Bewährung. Er soll seine frühere Freundin so tief in eine psychische und finanzielle Abhängigkeit gebracht haben, dass sie begann, Pornos auf die Bezahl-Plattform zu stellen, er selbst kassierte die Einnahmen. Den Ermittlern zufolge soll er das Vorgehen im ominösen Online-Netzwerk "Champlife" gelernt haben. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Staatsanwaltschaft und Verteidigung legten Berufung ein.
Wie es zu der spektakulären Festnahme in Argentinien kam
Vor dem Prozess hatte der Angeklagte insgesamt 50 Tage in argentinischen Auslieferungshaft, danach sieben Monate in Untersuchungshaft in Deutschland gesessen.
"Wir hatten den Angeklagten, der in Prag weilte, telefonisch überwacht", berichtet Staatsanwalt Ingo Krist aus den Tagen vor der Festnahme. Die frühere Freundin habe da noch auf eine intakte Beziehung gehofft, ihre Eltern aber hatten den Würzburger angezeigt. "Wir ermittelten wegen Zwangsprostitution, für eine Festnahme fehlte aber noch die Aussage der Geschädigten", schildert Krist.
Telefon überwacht: "Er hatte sich seine Papiere nach Prag bringen lassen"
Durch die Telefonüberwachung hätten die Ermittler gewusst, dass der Beschuldigte ahnte, dass man ihm auf der Spur war. "Er hatte sich seine Papiere nach Prag bringen lassen, einen Flug nach Argentinien gebucht. Wir wussten: Wenn der einmal den Flughafen in Buenos Aires verlassen hat, kann er nur noch schwer gefasst werden", sagt Krist.
Zu dem Zeitpunkt, mitten in der Nacht, sei der damals 21-Jährige bereits auf dem Weg zum Flughafen nach Paris gewesen. "Um im nichteuropäischen Ausland eine Festnahme zu erwirken, braucht es oft mehrere Tage, manchmal Wochen - aber nicht ein paar Stunden", erklärt der Staatsanwalt. "Außerdem hatte uns immer noch die Aussage der Geschädigten gefehlt, wir konnten sie erst am nächsten Morgen befragen. Aber aufgeben wollten wir so schnell nicht."
Es vergehen nervenaufreibende Stunden. Krist setzt den Haftbefehl auf, die Polizei recherchiert Fluggastdaten. Am nächsten Morgen vernehmen die Kripo und der Staatsanwalt die Geschädigte. "Einerseits mussten wir mit aller Behutsamkeit vorgehen, immerhin wurde ihr erst in diesem Moment klar, worauf sie hereingefallen war. Andererseits saß uns die Zeit im Nacken, denn der Verdächtige saß bereits im Flieger", sagt Krist.
Als die Vernehmung beendet ist, greifen alle Rädchen ineinander
Um 10.12 Uhr ist die Vernehmung beendet - Krist rennt los. "Ab jetzt müssen wir schneller sein, als ein Flugzeug fliegen kann", habe er den Kollegen noch zugerufen. Dann joggt der Staatsanwalt durchs Justizgebäude. Vier Stunden sind es noch bis zur Landung in Buenos Aires. Krist eilt zum Ermittlungsrichter und zurück, drängt in der Geschäftsstelle des Gerichts auf schnelle Bearbeitung, die Polizei hält währenddessen Kontakt zu den argentinischen Kollegen. "Da haben alle beteiligten Stellen mitgezogen."
Es ist kurz nach 13 Uhr, als im Gerichtgebäude die Hektik einer angespannten Stille weicht. Der Haftbefehl ist da raus - in drei Stunden statt in einer Woche. "Jetzt kam es auf die Schnelligkeit der Argentinier an, wir konnten nichts mehr machen", erinnert sich Krist. "Wir haben online die Route des Flugzeugs verfolgt - und gesehen, dass es durch Rückenwind schneller fliegt als gedacht. Da hatte ich innerlich abgeschlossen, mir gesagt: Wir haben alles probiert, aber es hat eben nicht geklappt."
Erst am Abend kommt die Nachricht aus Südamerika: Der Verdächtige ist festgenommen. Das Würzburger Team aus Justiz und Polizei ist erleichtert. Ingo Krist sagt: "Am Ende war auch einfach ein bisschen Glück dabei."
Schade! Wir leben zum Glück in einem Rechtsstaat. Natürlich ist es absolut verwerflich, was dem Angeklagten nachweislich vorgeworfen wird, aber sind damit Vorgehensweisen gerechtfertigt, die keine Rechtsgrundlage haben?
Die Berufungsverhandlung dürfte interessant werden - jedenfalls stellt sich langsam doch die Frage, wie das offenbar hoch motivierte „Würzburger Team aus Justiz und Polizei“ (!) hier mit fundamentalen Gesetzesvorgaben umging.
Und ich bin mir auch nicht sicher, ob jeder Leser dieser Zeitung verstanden hat, was der Vorwurf des „Zwangs zur Prostitution“ hier genau bedeutet. Man muss sich ja ggf. erst einmal informieren, was „OnlyFans“ ist, nämlich rein virtuell.
Was wiederum zu der Frage führt, inwieweit die nachvollziehbar perfide missbrauchten Gefühle der Geschädigten, die ja nicht selbst Anzeige erstattete, durch Strafverfolger „gelenkt“ wurden, indem man sie zielgerichtet informierte, was ihre „erste große Liebe“ da genau treibt und so überhaupt erst eine belastende Aussage der Frau, in emotionaler Ausnahmesituation, bekam….der Zweck heiligt die Mittel? Oder Zeitdruck?
ich kann Ihnen da nur absolut beipflichten, auch wenn ich die Vorgehensweise des Angeklagten aus meiner Sicht moralisch für absolut verwerflich halte.
Trotzdem sollten m. E. juristisch/polizeilische Vorgehensweisen juristisch abgedeckt sein. Ansonsten bewegen wir uns nicht mehr auf „rechtsstaatlicher“ Ebene.
Allerdings stellt sich durchaus die Frage, was (grundsätzlich und im speziellen Fall) wichtiger ist:
Einen Verdächtigen zu verhaften, koste es was wolle, um dann mit stolz geschwellter Brust einen „Ermittlungserfolg“ vorweisen zu können - oder das Wohl von Opfern, die m.E. nie zum Instrument von Polizei und Justiz gemacht werden dürfen, nur um eines „Erfolgs“ wegen. Scham von Opfern dafür zu instrumentalisieren, Ängste zu schüren, verbietet sich.
Konkret: ob der Frau nicht mehr gedient gewesen wäre, wenn sie behutsam auf die Tatvorwürfe und Hintergründe hingewiesen worden wäre und der Verdächtige eben später verhaftet worden wäre?
Denn dass es sich bei dem Flug nach Argentinien um eine „Flucht“ handelte ist ja ebenfalls Spekulation - so gravierend sind die Vorwürfe strafrechtlich (!) nicht.
Der Staatsanwalt ging laut seiner Aussage davon aus, dass man des Angeklagten nicht mehr hätte habhaft werden können, wenn er erstmal das Flughafengelände verlassen hätte. Möglich, man weiß es nicht. Aber man weiß eben auch nicht, wie Sie zu recht anmerken, ob es als „Flucht“ gedacht war. Das war dem Angeklagten zumindest nicht nachzuweisen. So wenig verständlich es klingen mag: Hätte der junge Mann einen Vertrag von 50% zu 50% mit seiner Freundin gemacht, so wäre es möglicherweise gar nicht zu einer Anklage gekommen, da das Ganze dann weder sittenwidrig noch strafbar gewesen wäre. So sind leider (!) unsere Gesetze.
„37.335 Haftbefehle in Bayern sind offen, etwa 50 Prozent mehr als 2012. Das Innenministerium mahnt, die Zahl „mit Vorsicht“ zu lesen.
Jürgen Köhnlein kennt die Zahlen – und das Problem. „Das ist natürlich nicht schön für uns“, seufzt der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), wenn man ihn nach den vielen offenen Haftbefehlen in Bayern befragt. „Wir haben ja den Bürgern ein Sicherheitsversprechen gegeben.“ Aber es sei nun einmal personell unmöglich, jedem offenen Haftbefehl nachzujagen.“…
Quelle: Merkur, 24.10.2024
Und das alles für eine „Jugendstrafe auf Bewährung“…
Viel mehr als die Anekdoten der Staatsanwaltschaft würde allerdings interessieren, was gegen das Online-Netzwerk „Champlife“ unternommen wird.
Auf welcher Rechtsgrundlage wurde die Telefonüberwachung durchgeführt? Obwohl noch keine Geschädigtenvernehmung vorlag?
Wurde (und wird) hier auf Organisierte Kriminalität abgestellt? Wie wurde das begründet? Laufen weitere Ermittlungen?
Das sind eher die Fragen, die hier zu stellen sind.
Persönlich dort anklopfen und fragen, die freuen sich bestimmt über Ihren Besuch.
Schöne Adventszeit noch, Herr Deeg