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Würzburg
Missbrauchsprozess: Das lange Warten auf Gerechtigkeit
Weitgehend ohne Öffentlichkeit fand der erste Tag im Prozess gegen einen Logopäden statt. Zu intim die Details, über die verhandelt wurde. Für Journalisten ein Geduldspiel.
Rund ein Jahr nach seiner Festnahme begann an diesem Donnerstag vor dem Landgericht Würzburg der Prozess gegen Oliver H., der über viele Jahre insgesamt sieben Buben missbraucht haben soll.
Foto: Thomas Obermeier | Rund ein Jahr nach seiner Festnahme begann an diesem Donnerstag vor dem Landgericht Würzburg der Prozess gegen Oliver H., der über viele Jahre insgesamt sieben Buben missbraucht haben soll.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 07.04.2020 13:14 Uhr

Groß ist das Medieninteresse am Prozess gegen den Würzburger Logopäden. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 38-Jährigen vor, über mehrere Jahre lang sieben kleine Buben mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen brutal misshandelt zu haben, um Kinderpornografie zu drehen und im Darknet zu verbreiten. Allein 66 Fälle schweren sexuellen Missbrauchs sind angeklagt.

Früh um 8.30 Uhr warten im Gericht rund 15 Zuschauer, darunter Angehörige der Opfer sowie zwei Dutzend Reporter, Fotografen und Kameraleute auf Einlass in den Saal. Das Landgericht hat nebenan eigens einen Arbeitsraum für die Presse eingerichtet. "Sogar mit W-Lan", staunt ein Kollege. Im Foyer gibt Rechtsanwalt Bernhard Löwenberg eine erste Stellungnahme ab. Er vertritt zwei Opferfamilien als Nebenkläger. Seine Mandanten seien bis heute schwer traumatisiert. "Da ist Leere, das fühlt sich für viele betroffene Eltern an wie tot sein", sagt Löwenberg. Ihre Erwartungen an den Prozess? "Gerechtigkeit. Der Täter soll nie wieder aus dem Gefängnis rauskommen."

Platzkarten für Journalisten

20 Minuten später öffnen zwei Wachmänner den Gerichtssaal, jeder Journalist erhält eine grüne, nummerierte Platzkarte und den deutlichen Hinweis, Laptops und Handys  auszuschalten. Nur stumm stellen reicht nicht, niemand dürfe am Handy "herumfummeln", sagt Michael Schaller, der Vorsitzende Richter.

Kurz nach 9 Uhr betritt der Logopäde, begleitet von Wachleuten sowie seinen Anwälten Jan Paulsen und Alexander Hübner, den Saal. Sein Gesicht hält er hinter einem Leitz-Ordner versteckt. Der schmächtige Mann trägt eine schwarze Stepp-Jacke, darunter ein orange-weiß-kariertes Hemd. Entscheiden über sein Schicksal wird eine Kammer, besetzt mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Die Anklage vertritt Staatsanwältin Manuela Teubel von der Zentralstelle Cybercrime in Bamberg. Außerdem sind zwei Sachverständige geladen. Fünf Anwälte vertreten die Opferfamilien als Nebenkläger.

Im Mittelpunkt der ersten Prozess-Minuten steht die Frage, inwieweit die Öffentlichkeit zugelassen werden kann. Schaller macht deutlich, dass er schon die 27-seitige Anklageschrift ohne Publikum verlesen lassen möchte. Zu groß sei die Gefahr, dass die behinderten Kinder und ihre Angehörigen weiter traumatisiert und stigmatisiert werden. Anwalt Paulsen stellt gar zur Diskussion, gleich das ganze Verfahren nichtöffentlich zu führen. Da winkt der Vorsitzende ab. Er könne sich durchaus vorstellen, einzelne Zeugen auch öffentlich zu vernehmen.

Alle Zuschauer müssen raus

Außerdem schlägt er vor, bei Einverständnis aller Beteiligten neben dem Pressesprecher des Landgerichts, Rainer Volkert, auch einzelne Rechtsreferendare, Jurastudenten oder Vertreter der Hilfsorganisation Wildwasser als Beobachter zuzulassen. Das aber stößt auf Ablehnung sowohl bei den Vertretern des Angeklagten wie auch der Nebenklage. Schaller entscheidet: Nicht nur die Reporter, alle Zuschauer müssen raus. Es ist jetzt kurz nach 10 Uhr.

Antje Sinn ist enttäuscht, sie hätte das Verfahren "aus Fortbildungsgründen" gerne live verfolgt. Sinn ist Geschäftsführerin bei Wildwasser und psychosoziale Prozessbeobachterin für das bayerische Justizministerium. Ihr Auftrag in vielen Verfahren ist es, Opfern von Gewalt- und Sexualdelikten im Prozess beizustehen. Im Fall des Logopäden ist sie nicht offiziell beigeladen. Die misshandelten Kinder, heute zwischen sieben und 13 Jahren alt, müssen nicht aussagen.

Wie sie den Logopäden-Fall einschätzt? Antje Sinn sagt, die Dimension sei nicht alltäglich. Die Beratung der Opfer, ihrer Eltern, aber auch vieler verunsicherter Mütter und Väter sowie der Mitarbeiter von Kindertageseinrichtungen habe Wildwasser viel Zeit gekostet. Gleichzeitig aber warnt sie davor, sich in der Öffentlichkeit allein auf diesen einen monströsen Fall zu fokussieren. "Gewalt und Missbrauch gegen Kinder finden jeden Tag statt. Täter gibt es überall."

"Ich hätte kotzen können"

Um kurz nach 11 Uhr ist die Öffentlichkeit wieder im Saal. Zwischenzeitlich hat Staatsanwältin Teuber die Anklage verlesen. Inklusive aller furchtbaren Details. Einzelheiten, die auch erfahrene Prozessbeobachter beim Lesen der Anklageschrift schlucken lassen. "Ich hätte kotzen können", sagt ein Gerichtsreporter. Seit 2008 soll der Angeklagte regelmäßig Kinder missbraucht haben, die ihm zur Therapie anvertraut waren. Die meisten Taten geschahen in den Räumen einer Tagesstätte, während die übrigen Kinder und die Erzieher beim Morgen-Kreis beieinander saßen. In den meisten Fällen habe der Angeklagte seine Taten aufgezeichnet. Die Bilder und Videos habe er in Kinderpornografie-Foren hochgeladen. Für die während der Verlesung anwesende Mutter eines Kindes der blanke  Horror. "Sie können sich vorstellen, wie es ihr geht", sagt später ihr Anwalt.

Am Donnerstag begann der Prozess gegen den Logopäden in Würzburg. 
Foto: Thomas Obermeier | Am Donnerstag begann der Prozess gegen den Logopäden in Würzburg. 

Aus Rücksicht auf die Persönlichkeitsrechte der Opfer und ihrer Familien soll der Prozess ohne Öffentlichkeit weitergehen, während eine weitere Diskussion entfacht. Die Anwälte der Nebenkläger, Christian Mulzer und Hanjo Schrepfer, möchten, dass zumindest Teile des Gutachtens, das der Münchner Psychiater Norbert Nedopil über den Angeklagten verfasst hat, vor der Einlassung des 38-Jährigen verlesen oder vorgetragen werden, um konkrete Fragen stellen zu können. Der Anwalt des Angeklagten, Alexander Hübner, möchte das nicht. Wieder wird die Sitzung unterbrochen.

Mauert der Angeklagte?

Das Gericht lehnt Mulzers und Schrepfers Antrag ab. Die Persönlichkeitsrechte des Angeklagten wögen schwerer als das Informationsbedürfnis der Anwälte. Richter Schaller verspricht ihnen aber, dass sie genügend Zeit erhalten, sich mit dem Gutachten zu beschäftigen. Dennoch spricht Mulzer  von einer "groben Ungleichbehandlung". Den Angehörigen der Opfer sei nur schwer zu vermitteln, warum der Angeklagte, der Reue und Schuldeinsicht angekündigt habe, hier mauere. Das Gutachten, das die Folgen der Taten für die Opfer beschreibt, habe die Gegenseite selbstverständlich zur Verfügung gestellt bekommen.

Um 13 Uhr macht das Gericht dann erst einmal Mittagspause.

Um 14.20 Uhr verkündet Schaller, die Anwälte Mulzer und Schrepfer könnten das Nedopil-Gutachten nun zeitnah in der Geschäftsstelle der Jugendkammer einsehen. Damit sei die Gefahr gebannt, dass unautorisierte Kopien in Umlauf kommen. Dann müssen die Zuhörer wieder raus.

Um 15.30 Uhr ist Pause. Gerichtssprecher Rainer Volkert berichtet, der Logopäde habe die Vorwürfe der Anklageschrift "vollumfänglich eingeräumt". Im Rückblick könne er realistischer beurteilen, welche Folgen seine Taten für die Opfer haben, habe er gesagt. Die Journalistenfrage, inwieweit er Reue gezeigt und sich entschuldigt habe, will Volkert nicht beantworten.

Es ist nach 17 Uhr, als sich die Türen des Gerichtssaals ein letztes Mal an diesem Donnerstag öffnen. Der erste Verhandlungstag geht zu Ende. Die Befragung des Beschuldigten hat länger gedauert als erwartet. Nein, eine Entschuldigung seitens des Angeklagten habe es nicht gegeben, sagen Anwälte. Die meisten Journalisten sind zu diesem Zeitpunkt längst gegangen.  

 
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