Das Schicksal kann Menschen beuteln. Es kann so schnell zuschlagen, dass einem schwindlig wird. Und wenn es Eltern ein Kind nimmt, während das andere gerade im Bauch der Mutter heranwächst, dann sind Gefühle kaum mehr steuerbar. Hinter Melanie Mende (36) und ihrem Mann Daniel (37) aus Berlin liegen Jahre des Glückes, der Verzweiflung, der Krankheit, des Todes und des neuen Glückes. Sechs Monate nach dem überraschenden Tod ihres an einer seltenen Erkrankung leidenden Sohnes Ben (2 Jahre, neun Monate) kam Leo auf die Welt. Leo. Heute sieben Monate alt, quicklebendig, bezauberndes Lächeln, große Kulleraugen.
Leo. Papas kleiner Don Krawallo, der jetzt die Lobby des Würzburger Maritim-Hotels aufmischt, das seine Eltern nur zu gut kennen. In dem Leos großer Bruder Ben manche Stunde im Kreis anderer betroffener Kinder aus Deutschland und europäischen Nachbarländern verbracht hat. Zusammengeschlossen im Verein "Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff" mit Sitz in Höchberg im Landkreis Würzburg, treffen sich die Familien regelmäßig auch in Würzburg. Gegründet wurde der Verein von Birgit Hardt und Folker Quack, deren heute neunjähriger Sohn Dario ebenfalls an der durch einen Gen-Defekt bedingten und unheilbaren Stoffwechselkrankheit leidet. Die Höchberger organisieren Familientreffen und Konferenzen, stehen übers Internet im ständigem Kontakt mit den anderen Familien, diskutieren mit Spezialisten, sammeln Spenden, machen Mut, sind da, wenn ein Kind stirbt. So wie vor einem Jahr Ben gestorben ist. Leos Bruder.
"Er sagte plötzlich wieder Mama."
Die Krankheit ist mächtig, die Forschung teuer und durch die seltenen Fälle auf der Prioritäten-Liste der Wissenschaftler weit hinten. David gegen Goliath. Aber es ist ein Kampf, der lohnt. Vieles, das vor Jahren medizinisch noch unerreichbar schien, ist näher gerückt. Wissenschaftler und Ärzte arbeiten an Therapien, an Medikamenten, die helfen, die motorischen Fähigkeiten der Patienten zu erhalten, die begrenzte Lebenszeit lebenswert zu machen. Wenigstens das.
Leo sitzt auf auf dem Arm von Papa, nuckelt am Schnuller und lächelt seine Mama an. Leo. Der kleine Bruder, der seinen großen Bruder nicht mehr kennen lernen durfte. Nur wenige Monate, bevor Leo das Licht der Welt erblickt, stirbt Ben völlig überraschend. "Das klingt seltsam, weil er ja todkrank war, aber Ben ging es zu dem Zeitpunkt gut. Er war stabil", sagt Melanie Mende. Im Gegenteil. Ben hatte Fortschritte gemacht mit einem neuen Medikament. "Er sagte plötzlich wieder Mama, das war unfassbar schön." Melanie Mende lächelt mit Tränen in den Augen. "Und Papa!" Bens Papa Daniel muss schlucken. "Ein Professor sagte uns später, dass er den Tod von Ben zu diesem Zeitpunkt definitiv nicht erwartet hätte."
Tay-Sachs. Tückisch. Nicht heilbar. Ja. Aber deshalb kann es doch weitergehen! Die Hoffnung, dass Ben mit der Krankheit leben kann, war immer da. Die Zuversicht, ihm ein gutes Leben zu ermöglichen, auch. So gut das eben geht mit dieser grausamen Diagnose, die zwei Tage nach Bens erstem Geburtstag ins Leben der jungen Familie einbricht wie ein Tsunami. Einer, der gekommen ist, um zu zerstören. Denn das tut diese Krankheit. Sie zerstört. Stück für Stück.
Grausame Diagnose
Ablagerungen in Nervenzellen führen zu Schwellungen, Fehlfunktionen und zum Absterben der Zellen. Die betroffenen Enzyme sind vor allem in den Nervenzellen des Kleinhirns vertreten, was zu motorischen Ausfällen führt. Erworbene Fähigkeiten gehen verloren, es kommt zu epileptischen Anfälle, viele Kinder erblinden, verlieren ihr Gehör, bekommen Schluckprobleme. Das Liebste, das Melanie und Daniel haben, soll diese Naturgewalt am Ende nicht überleben? Das ist nicht wahr. Oder doch? "Ihr Kind wird nicht alt werden", sagen die Ärzte. In der Regel sterben sie bei der infantilen Verlaufsform, die Ben hat, mit fünf Jahren.
Dario (9) aus Höchberg hat die juvenile Form, die eine mildere Verlaufsform hat, aber ebenfalls unheilbar und mit großen Einschränkungen und Leid verbunden ist. Je später die Krankheit ausbricht, desto höher die Chance, dass eine Restaktivität der betroffenen Enzyme bleibt. Die Wahrscheinlichkeit, an Tay-Sachs oder Sandhoff zu erkranken, ist sehr gering. Jedes Jahr, so vorsichtige Schätzungen, werden in Deutschland vier bis neun Kinder mit einer infantilen oder juvenilen Verlaufsform geboren. Einer von 300 Menschen ist Träger einer Mutation, die Tay-Sachs oder Sandhoff auslösen kann. Es gibt auch die adulte Form, die erst im jungen Erwachsenenalter auftritt. Zu den Symptomen gehören Muskelschwäche, Zittern, Muskelzuckungen in den Beinen und eine verwaschene Aussprache. Etwa 30 Prozent der Patienten bekommen psychische Probleme bis hin zu Depressionen. Die Diagnose bei Erwachsenen ist schwer, dauert oft viele Jahre.
Für Melanie und Daniel Mende ist der Tag der Diagnose ein Schock. Auch sie haben bis zum Schluss gehofft, dass es diese seltene Krankheit schon nicht sein wird. "Das war ja so unwahrscheinlich." Doch dann kommen die ersten Ergebnisse. Und das Gespräch beim Spezialisten in der Klinik. "Es war alles wie ein böser Traum." Aber eben einer, der bittere Wahrheit ist. "Ich bin danach jeden Morgen mit dem Gedanken aufgewacht, Ben ist todkrank", sagt die Mutter. Doch noch eines begreifen sie. Es ist unsagbar schön, ein Kind zu haben. "Ein Kind wie Ben ist ein Geschenk. So lieb, so willensstark, so tapfer", erzählen sie. In der Kita ist er beliebt, akzeptiert, umsorgt. Ben. Das große Baby. "Wir hatten Glück", sagen die Eltern. Mit allen Menschen, die da waren für Ben. Die sich engagierten, mehr als die Familie es je zu hoffen gewagt hätte.
"Wir haben so viel Stärke aus unserem Kind gewonnen. So viel Liebe." Und genau deshalb entscheiden sie sich für ein zweites Kind. Weil Ben ein Geschwisterchen haben soll. Eines, das seinen großen Bruder kennen lernen darf. So wundervoll wie er ist. Weil das Risiko besteht, dass auch ihr zweites Kind an dem Gen-Defekt erkrankt, gehen sie den Weg der künstlichen Befruchtung. "Da war nie der Gedanke, einen Ersatz für Ben haben zu wollen, das geht gar nicht", sagt Melanie Mende.
Der Tag, an dem Ben ging
Es ist ein Sonntagmorgen, der 12. November 2017, und Melanie im vierten Monat schwanger, als Ben einen epileptischen Anfall bekommt. Nichts ungewöhnliches, wie alle Eltern betroffener Kinder, haben die beiden Routine in solchen Situationen. Doch Ben bekommt keine Luft, verliert das Bewusstsein. Als der Notarzt kommt, beruhigen sie sich, jetzt ist professionelle Hilfe da. Alles wird gut. "Selbst als Ben reanimiert werden musste, hatte ich keine Sekunde daran gedacht, dass er sterben könnte", sagt Melanie Mende jetzt. "Erst als ich auf die Uhr gesehen und realisiert habe, dass er schon eine Stunde weg ist, kam der Gedanke, er könnte nicht wiederkommen."
Im Kopf und im Herz beginnt sich zu diesem Zeitpunkt alles zu drehen. Sie fleht, sie bettelt, ihre Seele stürzt hinab in schwarze Tiefe. "Lieber Gott, bitte gib mir mein Kind zurück!" Daniel und Melanie erinnern sich zurück. Gemeinsam. "Es war so unwirklich. Alles danach lief automatisiert ab." Sie informieren die Großeltern, die Patentante. Und sie rufen Birgit Hardt in Höchberg an. Der Verein ist wie ein zweite, große Familie. Sie alle sind mit dem Herzen bei ihnen. Tränen fließen, so wie sie bei Melanie geflossen sind, als andere Kinder aus der Vereins-Familie gestorben sind. Eltern, die auch nach dem Tod ihrer Kinder noch zu den Treffen kommen. Weil sie dort Trost finden. Weil sie helfen wollen mit ihren Erfahrungen, ihrem Wissen, ihrem Kampfgeist gegen die Krankheit, der mit dem Tod nicht geht.
Folker Quack und Birgit Hardt, die Gründer des Vereins, können oft nur staunen: "Zu einem Treffen kam kürzlich eine Ehepaar aus der Region, das ihr Kind schon 1982 verloren hat und die nun mit uns zusammen weiterkämpfen wollen gegen die Krankheit." Posthum. Für ihr Kind. Auch bei Daniel und Melanie Mende ist das so. Sie bleiben der Familie treu, mehr noch, engagieren sich künftig noch mehr im Verein. Das nächste europäische Treffen steht an. Nach Paris, London und Madrid ist diesmal Würzburg Ort des Geschehens. Mitte Juli 2019. Sie wollen bei der Planung und Durchführung helfen.
Der Skianzug hängt noch im Schrank
Melanie Mende gestikuliert, während Leo ungerührt auf ihrer Brust einschläft. "Er ist ganz entzückend, wenn er schläft", sagt Daniel lachend. Leo. Don Krawallo. Leo, der seinem Bruder Ben nach der Geburt wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. Wie hält man das aus? Wie kann man ihn und sich selbst schützen vor dieser Wucht des immer wiederkehrenden Schmerzes? "Es geht. Man ist selbst erstaunt über diese Stärke", sagen sie. "Der Gedanke, dass ich Verantwortung habe für das Kind in meinem Bauch, dass ich jetzt für dieses Kind funktionieren muss, egal, wie, hat mich in den Wochen nach Bens Tod aufrecht gehalten." Und doch war da immer die Frage: Werde ich das zweite Kind jemals so lieben können wie mein erstes Kind? Jenes Kind, mit dem so viel Sorge, Innigkeit und Liebe verbunden ist.
Ja. Es geht. "Du liebst es genauso. Anders. Aber genauso stark." Und Ben ist ja irgendwie auch immer da. Im Lachen von Leo. In Kleidungsstücken. Im Herzen sowieso. Manchmal geht Melanie Mende bewusst zum Schrank, in dem Bens Skianzug hängt. "Der Anzug riecht noch ganz stark nach ihm", sagt sie. Es gibt Dinge, die haben sie verkauft. Bens Möbel etwa. Aber die meisten Kleidungsstücke, die trägt Leo jetzt auf. Ganz normal. Wie unter Brüdern üblich. Leo wird irgendwann Fotos anschauen. Nach seinem großen Bruder fragen. Geschichten hören wollen von Ben, der im Himmel wohnt. "Er soll die besondere Geschichte von Ben kennen lernen. Kranke Kinder mit Behinderungen als normal empfinden, als Bereicherung. Sie annehmen, genau so, wie sie sind", sagt Daniel Mende. Deshalb wird Leo künftig Teil der Tay Sachs/Sandhoff- Familie sein. Damit er die Kinder, die wie Ben waren, erlebt. So wie die Kinder in Bens Kita seinen großen Bruder erlebt und gemocht haben. So sehr gemocht, dass sein Tod sehr lange Thema war, sie ihm viele Bilder gemalt haben.
Am ersten Todestag von Ben vor wenigen Wochen haben Melanie und Daniel Mende sein Grab schön gemacht. Der Tag sei gar nicht so schlimm gewesen, wie befürchtet. "Wir vermissen ihn jeden Tag und denken an ihn.” Und: Nichts wird mehr richtig schlimm sein in ihrem Leben. "Wir haben schon das Schlimmste erlebt. Wir haben unser Kind verloren."
Hand in Hand gegen Tay-Sachs und Sandhoff ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Höchberg im Landkreis Würzburg, der betroffenen Familien aus Deutschland und Europa beisteht: (0931)99131400 Mail: info@tay-sachs-sandhoff.de
Wer den Verein mit einer Spende unterstützen möchte:
Empfänger: „Hand in Hand“
Sparkasse Mainfranken
IBAN: DE59 7905 0000 0047 7995 15
BIC: BYLADEM1SWU