- Was ist das für ein Stück? "Falstaff", nach Shakespeares "Die lustigen Weiber von Windsor", uraufgeführt 1893, ist der späte Höhepunkt in Giuseppe Verdis Schaffen. Es gibt, ähnlich wie bei Wagner, keine einzelnen Arien mehr, alles ist ein unendlicher Fluss wunderbarer Musik.
- Worum geht's? Die Zeit ist über den abgehalfterten Lebemann Falstaff hinweggerollt, jetzt rächt sich eine Gesellschaft selbstgerechter Emporkömmlinge an ihm für sein Schmarotzertum und seine Betrügereien.
- Wie ist es umgesetzt? Regisseurin Magdalena Fuchsberger betont die zweiteilige Struktur des Stücks mit einer eigenwilligen Konstruktion: Auf einen turbulenten, schrillen ersten Teil folgt ein zumindest optisch unterkühlter zweiter.
Bei einem dieser Führungskräfteseminare bekäme Falstaff wahrscheinlich als erstes gesagt, er müsse mal über die Diskrepanz zwischen seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung nachdenken. Er selbst hält sich für unwiderstehlich, der Rest der Welt hält ihn für widerlich. Nach der Premiere von Magdalena Fuchsbergers Inszenierung von Verdis letzter Oper gleichen Namens für das Mainfranken Theater in der Theaterfabrik Blaue Halle kann man derlei Coachingansätze getrost als hinfällig abhaken.
Denn Fuchsberger zeigt einen liebenswerten Schurken, der sich der moralischen Anfechtbarkeit seines Schmarotzertums sehr wohl bewusst ist. Da er aber sein ganz eigenes ethisches Bezugssystem hat, kommt er mit dieser Diskrepanz bestens klar. Oder würde klarkommen, wenn sich eine Gesellschaft von Emporkömmlingen nicht gegen ihn verschworen hätte.
Aufbauten auf dem Kopf, die Abbilder von Bazillen für ein Kinderbuch sein könnten
Fuchsberger betont die zweiteilige Struktur der Oper in extrem unterschiedlichen Bildern: Der erste Teil (im Wirtshaus und in Fords Haus) findet in einem riesigen Magen statt, auf einem Bildschirm blutet ein Geschwür vor sich hin. Die Figuren (Bühne und Kostüme: Monika Biegler) sind in satte Farben gehüllt, auf dem Kopf tragen sie Aufbauten, die Abbilder von Bazillen für ein Kinderbuch sein könnten.
Nur Falstaff trägt einen grauen Jogginganzug über einem T-Shirt mit der riesigen Aufschrift "Sir". Riesig auch deshalb, weil Siyabulela Ntlale, der als Debüt die Titelrolle auf Weltklasseniveau singt, seine ganze Körperfülle an die Rampe wirft und dabei doch der Leichtfüßigste in diesem quirligen Ensemble ist.
Der zweite Teil (im Park) spielt bei kaltem Licht (Mariella von Vequel-Westernach) auf quasi leerer Bühne. Vielleicht der Kopf, in dem sich peinigende Gedanken eingenistet haben, dargestellt durch ein zu Vampiren mutiertes Ensemble. Bei aller Schrillheit ist diese Inszenierung erstaunlich nah am brillanten Text von Arrigo Boito und Verdis vielschichtiger Musik, nur eben ohne die Zinnen von Windsor. Magdalena Fuchsberger erlegt auch niemandem ein Schlüssigkeitsratespiel auf, es reicht völlig aus, den Spaß am Unsinn, die sicher gesetzten Pointen, die Spielfreude von Solisten und Chor und letztlich auch die emotionale Tiefe dieser Produktion zu genießen.
Verlogen devote Knallchargen nutzen jede Gelegenheit zur lustvollen Überzeichnung
Da ist vor allem der südafrikanische Bariton Siyabulela Ntlale, der einerseits mit berückend warmem Timbre unglaublich souverän und flexibel singt, der andererseits hinter dem Charme der Unverschämtheit ungeahnte Verletzlichkeit aufscheinen lässt. Wie er bis zum Schluss der Übermacht der "Dutzendmenschen" die Stirn bietet, macht ihn zum echten Helden. Da bleibt sich einer treu, im Gegensatz zu all den Opportunisten.
Da ist aber auch das wunderbar gemeine Frauenquartett mit Vera Ivanović (Alice Ford), Milena Arsovska (Nannetta), Barbara Schöller (Mrs. Quickly) und Vero Miller (Meg Page) und die ein wenig blassere Männerriege mit Leo Hyunho Kim (Ford), Roberto Ortiz (Fenton) und Yong Bae Shin (Dr. Cajus). Mathew Habib und Gustavo Müller wiederum nutzen als verlogen devote Knallchargen Bardolfo und Pistola jede Gelegenheit zur lustvollen Überzeichnung.
Enrico Calesso und das Philharmonische Orchester statten das Geschehen mit ebenso plastischen wie beseelten Klängen aus, vor allem im zweiten Teil, wo ja die nahezu überirdische Schönheit der Musik im krassen Kontrast zur Niedertracht der Intrige steht. Die Schlussfuge, gesungen in versetzt wogenden Reihen, ist ebenso spektakulärer wie versöhnlicher Abschluss.
Nicht erst zum Schluss langer Applaus, viel Jubel und einige wenige Buhs fürs Regieteam, die aber schon beim zweiten Vorhang verstummt sind. Eine Produktion, über die man durchaus diskutieren kann. Und genau das soll Theater ja auch sein.
Weitere Vorstellungen: 13., 19. Juni, 2., 14., 21. Juli. Karten: Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de