Drei Jahrzehnte ist sie im Einsatz. Man sieht es ihr nicht an. Keine Risse, keine geflickten Stellen. Immer noch leuchtend rot, mit glänzenden Knöpfen und ordentlich gesticktem Namensschild. "Die hatte ich schon bei meiner ersten Alarmierung an", sagt Dr. Alexander Beck. Vor 30 Jahren, als er als junger Arzt in einem Augsburger Vorort zu einer komatösen Frau gerufen wurde. Es war sein erster Einsatz als Notarzt, zum ersten Mal trug er die rote Jacke. Und die Verantwortung. "Irgendwie muss man schon dazu geboren sein", sagt der Chefarzt der Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Würzburg Mitte (KWM). Er schlüpft aus seinem weißen Arztkittel, hinein in die roten Ärmel. "Keiner zwingt einen dazu, Notarzt zu sein. Man muss das wollen."
Beck will es. Bis heute. Seit 2007 ist er Chefarzt am Standort Juliusspital, leitet das Institut für Sportmedizin und Sportverletzungen. Daneben, am Wochenende, an freien Tagen oder nachts, ist er Notarzt. "Man ist Vollblutmediziner und die Medizin hört nicht bei der Hüft- oder Knieprothese auf", sagt der 54-Jährige, der vor knapp eineinhalb Jahren den Vorsitz der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte (agbn) übernommen hat. "Auch mal einen Herzinfarkt zu behandeln, mal in einer Wohnung ein Baby auf die Welt zu bringen – das macht natürlich Spaß". Geplant war es allerdings nicht, dass Beck in die Fußstapfen des Würzburger Vaters der Notfallmedizin, Professor Peter Sefrins, treten würde.
Beck stammt aus Augsburg, aus einer Familie von Radiologen. "Mein Großvater war Radiologe, mein Vater war Radiologe, ich sollte auch Radiologe werden." Er wurde es nicht, weil es "zu weit weg von der kurierenden Medizin war". Und um die geht es ihm. Um das Akute, darum, "Notfälle immer und gut zu beherrschen". Schon während des Studiums in München ist Beck deshalb als Notarzt tätig. In der Facharztausbildung in Augsburg gründet er mit Kollegen einen neuen Notarzt-Standort. Bis heute fährt er dort, in Augsburg Süd, einmal pro Monat Einsätze.
An seinen ersten kann er sich "noch sehr gut erinnern". Er wurde zu einer 28-jährigen Frau gerufen, "sie war tief komatös und hatte Schnappatmung". Beck dachte zunächst an Drogen, "aber das Umfeld hat nicht gestimmt". Der junge Arzt musste die Frau reanimieren, neben dran lag das zweijährige Kind in seinem Bettchen und schrie. "Das war emotional schon belastend." Beck hielt dem Druck stand. Die Frau, die eine Hirnblutung erlitten hatte, überlebte. "Viele Wochen später hat sie mir aus der Reha eine Karte geschrieben, als es ihr wieder gut ging. Das hat mich extrem gefreut, dass alles so gut für sie ausgegangen ist." Es geht ihm nicht um den Dank der Patientin, nicht um die Anerkennung seiner Leistung. Sondern darum, dass die junge Frau "alles praktisch ohne Schäden überstanden hat".
Beck lebt es, Retter zu sein. Aber um zu retten, nicht um gefeiert zu werden. Der Beruf steht für den 54-Jährigen an erster Stelle. Immer. Alles andere muss zurückstecken. Auch die Familie. Freizeit, Wochenende, Urlaub gibt es nicht oder selten. "Bei mir endet die Medizin nicht um 16 oder 18 Uhr, auch nicht, wenn ich nach Hause gehe." Seine Frau und die drei Kinder "leben schon immer damit und haben das akzeptiert". Eine Trennung zwischen Beruf und Privatleben braucht Beck nicht. "Viele Menschen sagen, wenn man aus der Klinik rausgeht, soll man abschalten. Das habe ich seit ich arbeite noch nie gemacht, das konnte ich noch nie und ich weiß auch nicht, ob man das unbedingt muss."
Zeit zum Vertreiben, für den viel beschworenen Ausgleich, bleibt fast nie. Beck zuckt mit den Schultern. Neben der Chefarzt-Tätigkeit und dem Vorsitz der Notärzte-Arbeitsgemeinschaft übernimmt er mindestens alle zwei Wochen den leitenden Notarzt-Dienst in Würzburg, einmal pro Monat fährt er seine Doppelschicht in Augsburg. Zusätzlich ist er Verbandsarzt der deutschen Freiwasserschwimmer. "Vielleicht kennen Sie meine Tochter, Leonie Beck?" Der Stolz des Vaters auf die Schwimmerin des SV Würzburg 05, die bereits mehrfach Deutsche Meisterin wurde, ist spürbar. Selbst schwimme er allerdings im Moment nicht. Die Schulter ist verletzt, ein Fahrradunfall. Aber "wenn ich Urlaub habe, dann begleite ich meist meine Schwimmer bei Wettkämpfen", sagt der 54-Jährige. "Meine persönlichen Hobbys sind schon sehr medizingeprägt."
Selbstverständlich ist das längst nicht mehr, auch nicht bei Medizinern, auch nicht bei Notärzten. "Zum Teil will die junge Ärzte-Generation heute auch geregelte Arbeitszeiten haben. Für sie ist die Familie teilweise wichtiger als der Beruf", sagt Beck. Manchmal sei es schon schwierig, "diese jungen Menschen zu motivieren, einen relativ anstrengenden Job wie den eines Notarztes auszuüben".
Verändert hat sich auch die Sicherheitslage. Einsätze mit Stich- und Schusswaffen beispielsweise nehmen zu. "Das gab es früher überhaupt nicht. Da ist man schon vorsichtiger geworden, aus Selbstschutz und aus Schutz für die Mannschaft", sagt Beck. Gemeinsame Schulungen mit der Polizei bereiten die Notärzte auf gefährliche Lagen vor. Und auf den Umgang mit aggressiven Patienten und Passanten. "Früher wäre es ausreichend gewesen, wenn der Notarzt mal ein lautes Wort sagt. Dann wäre auch der letzte Betrunkene brav gewesen", so Beck. Heute müsse er häufiger die Schutzpolizei dazu holen, um die Situation besser im Griff zu haben. "Auch mir ist es schon passiert, dass ich von Verletzten angespuckt und von Umherstehenden bedrängt oder schon fast bedroht werde", sagt der 54-Jährige. Schuld sei manchmal fehlende Wertschätzung, oft Enthemmtheit durch Alkohol und Drogen. "Aber es liegt sicher auch daran, dass aus meiner Sicht insgesamt die Gewaltbereitschaft zugenommen hat."
Abhalten lässt sich Beck davon nicht. "Man kann ja nicht die gesamte Bevölkerung bestrafen, nur weil ein paar Patienten einem blöde kommen. Mir macht es nach wie vor Spaß."
Beck zeigt auf seine rechte Brusttasche. Auf den roten Stoff der Notarztjacke ist das blau-weiße Emblem des Royal Flying Doctor Service geprägt. Die gemeinnützige Organisation kümmert sich in Australien um die medizinische Versorgung der Menschen in abgelegenen Gebieten, im Outback. Aus der Luft, mit kleinen Propeller-Maschinen. Beck hat dort, in Port Hedland, während seiner Ausbildung ein Praktikum gemacht, "das mit Abstand schönste". Der Chefarzt strahlt. "Jeden Tag bin ich mit den Doctors rausgeflogen."
Glücklicherweise, sagt Beck, blieben vor allem die Einsätze in Erinnerung, die gut ausgegangen sind. Aber es gibt die anderen. Die Verkehrsunfälle, bei denen jede Hilfe zu spät kommt. Die tödlichen Infarkte. Die Reanimationen, die scheitern. "Natürlich überlebt nicht jeder Patient", sagt Beck. "Man sollte sich immer selbstkritisch hinterfragen, hätte ich etwas besser machen können, habe ich alles getan? Und man muss natürlich auch klar sagen: Man selber ist nicht der liebe Gott oder die Natur." Stress und Druck auszuhalten, sei Teil des Berufs. Genauso wie der Tod. Und Fehler? Sicher habe es Situationen gegeben, die er später anders eingeschätzt habe, als vor Ort, sagt Beck. An eine klar falsche Entscheidung könne er sich aber nicht erinnern. Heute helfe im Einsatz die Erfahrung, das "breitere Kreuz". Die Routine schafft Sicherheit und Ruhe.
Die strahlt Beck aus, egal ob er in seinem Chefarzt-Büro sitzt oder mit großen Schritten durch die Krankenhausflure zum Rettungswagen läuft. "Insgesamt ist sicher die Zahl der Einsätze in den 30 Jahren, in denen ich das mache, etwas gestiegen."
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Pro Jahr rücken Notärzte in ganz Bayern etwa 370 000 Mal aus, um Leben zu retten, heißt es von der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern. Diese stellt die notärztliche Versorgung im Freistaat sicher und ist für die Organisation der Dienste zuständig. Bayernweit gibt es 229 Notarzt-Standorte, die rund um die Uhr besetzt sind. Rund 2700 Mediziner übernehmen die Dienste, freiwillig. Viele von ihnen sind in der Notärzte-Arbeitsgemeinschaft agbn organisiert.
An deren Spitze steht Beck nun seit Oktober 2017. Gemeinsam mit dem Nürnberger Kinderarzt Dr. Michael Schroth wurde er zum Nachfolger des agbn-Gründers Peter Sefrin gewählt. Er will vor allem die Aus- und Weiterbildung der Notärzte verbessern, etwa durch Simulationen, ähnlich wie bei Piloten. Und er fordert "eine flächendeckende Notarztversorgung in Bayern auf höchstem Niveau". Die gebe es zwar bereits – "aber es gibt nichts, was man nicht noch ein bisschen besser machen kann".
Das klingt ehrgeizig. Das Optimale ist für den 54-Jährigen kein unerreichbares Fernziel, sondern Ansporn. Immer. Auch, wenn er nicht im Einsatz ist. Auch, wenn es nur um einen Fotografentermin vor dem Rettungswagen geht. Das Bild muss stimmen, die rote Jacke richtig sitzen, das Emblem des Royal Flying Doctor Service zu sehen sein. Nicht, weil Beck eitel ist. Sondern weil es sonst nicht perfekt wäre.