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Würzburg
Krebs bei Kindern: Wenn die Erkrankung die Kleinsten trifft
Wenn ein Kind an Krebs erkrankt, bricht für die Eltern eine Welt zusammen. Oft gibt es für die Erkrankung zwar gute Heilungschancen, aber nicht immer. Eine Familie erzählt.
Jedes Jahr erkranken dem Deutschen Kinderkrebsregister zufolge 1800 Kinder und Jugendliche an Krebs.
Foto: Matthias Balk, dpa | Jedes Jahr erkranken dem Deutschen Kinderkrebsregister zufolge 1800 Kinder und Jugendliche an Krebs.
Lisa Marie Waschbusch
 |  aktualisiert: 08.02.2024 10:42 Uhr

Ella war plötzlich launisch, reagierte sehr emotional. Sie wollte sich nicht mehr selber anziehen und hielt sich beim Spielen mit Freundinnen zurück, obwohl sie sonst so viel Power hatte. Rückblickend, sagt ihre Mutter Christina heute, sei es ein längerer Zeitraum gewesen, in dem sich Ella veränderte und anders verhielt. Ein schleichender Prozess, der viele Gründe hätte haben können: die Geburt der kleinen Schwester Lina, eine Trotzphase, ein eingeklemmter Nerv. Am 2. November 2019 schließlich wachte die Familie auf - und Ellas linke Gesichtshälfte hing.

Joachim und Christina B. erzählen die Geschichte von Ella bei einem Spaziergang in ihrem Wohnort im Landkreis Neustadt a. d. Aisch. Die Vierjährige ist nur kurz dabei, man sieht ihr an, dass das vergangene Jahr sie mitgenommen hat. "Es geht ihr gut für das, was sie mitgemacht hat", sagt Vater Joachim. Drei schwere Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung. Die niederschmetternde Diagnose im November 2019 lautete: embryonaler Tumor mit mehrschichtigen Rosetten (ETMR). Ein Hirntumor, bösartig und aggressiv, der hauptsächlich Kinder unter vier Jahren trifft. Die Heilungschancen: schlecht. Doch die Geschichte von Familie B. ist eine, die Hoffnung machen soll, wo es auf den ersten Blick kaum Hoffnung gab.

Die Chance, Krebs zu heilen, ist bei Kindern generell höher 

Laut Deutschem Kinderkrebsregister erkranken in Deutschland jedes Jahr etwa 1800 Kinder und Jugendliche an Krebs. Die Chancen, ihn zu besiegen, sind bei Kindern generell höher als bei Erwachsenen. Je nach Art der Erkrankung können 80 Prozent aller betroffenen Kinder geheilt werden. "Krebserkrankungen im Kindesalter sind andere Erkrankungen als bei Erwachsenen", sagt Kinderonkologe Prof. Paul-Gerhardt Schlegel von der Uniklinik Würzburg. "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern etwas ganz Eigenständiges."

"Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sondern etwas ganz Eigenständiges."
Prof. Paul-Gerhardt Schlegel, Kinderonkologe in Würzburg

Die meisten der kleinen Patienten, die Schlegels Team in der Kinderonkologie behandelt, haben Leukämie, andere sind von Hirntumoren betroffen. Jedes Jahr kommen knapp 100 neu an Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche in die beiden Stationen an der Würzburger Uniklinik und in die ambulanten Tagesklinik. Die betroffenen Familien kommen aus der ganzen Region - vom südlichen Thüringen bis ins nördliche Baden-Württemberg, von den Haßbergen bis nach Aschaffenburg.

Kinder mit Hirntumoren werden hier von einem Team aus Pädiatrischen Neurochirurgen, Kinderonkologen, Pädiatrischen Intensivmedizinern und Strahlentherapeuten interdisziplinär betreut. Eine Behandlung "aus einem Guss", sagt Schlegel, das würden auch die Eltern sehr schätzen.

Die vierjährige Ella aus Mittelfranken hatte einen bösartigen Hirntumor. Drei Operationen, Chemotherapie und Bestrahlung liegen hinter ihr.
Foto: Lisa Marie Waschbusch | Die vierjährige Ella aus Mittelfranken hatte einen bösartigen Hirntumor. Drei Operationen, Chemotherapie und Bestrahlung liegen hinter ihr.

Der Würzburger Mediziner kennt Familie B. und die Geschichte der kleinen Ella. Den Tumor hatten die Ärzte in der Kinderonkologie Anfang November 2019 innerhalb weniger Stunden festgestellt. Schon am 5. November folgte die erste Operation, elf Stunden lang. Anschließend bekam Ella mehrere "Chemoblöcke": Eigene Blutstammzellen wurden ihr entnommen, um sie ihr nach der Chemo zur Regeneration wieder zurückzuführen. Dazwischen lagen immer wieder Kontroll-Untersuchungen mit der Magnetresonanztomographie (MRT). Schon nach dem ersten Eingriff, erzählt Vater Joachim, habe der Chirurg gesagt, dass er wohl nachoperieren müsse. Im Februar 2020 wurde Ella ein zweites Mal operiert, sieben Stunden lang.

Aufklärungsgespräche sind belastend für die Ärzte

Paul-Gerhardt Schlegel kennt die Schwierigkeit, mit Eltern und Kindern über die Diagnose Krebs zu sprechen, nur zu gut. "Das macht etwas mit einem", berichtet der Kinderonkologe. Man sei zwar professionell geschult, aber solch eine Diagnose schüttle auch ein erfahrener Arzt nicht so leicht ab. Deshalb wechseln sich an der Würzburger Universitätsklinik die fünf zuständigen Kinderonkologen bei den Aufklärungsgesprächen ab.

Man versuche immer ehrlich mit den kleinen Patienten umzugehen und ihnen die Diagnose kindgerecht nahe zu bringen, sagt Schlegel. "Zum Beispiel, indem man ihnen ein kleines Bildchen malt." Seine Stimme wird ruhiger, wenn er erklärt: "Das sind die guten Zellen in deinem Körper, da haben sich ein paar schlechte eingeschlichen. Jetzt entsteht ein Kampf und wir müssen die Guten bewaffnen, damit sie die Bösen wieder verdrängen können."

Es sei erstaunlich, wie viel Kinder verstehen und wahrnehmen. "Früher hat man gedacht, die Kinder können das emotional nicht aushalten, man müsse sie beschützen", sagt Schlegel. "Aber das Gegenteil ist der Fall. Oft können die Eltern es nicht aushalten. Manchmal malen die Kinder auch Bilder im Kindergarten, die man im Nachhinein deuten kann und bei denen man erkennt: Die haben schon gespürt, dass etwas nicht in Ordnung ist."

Hat Ella irgendwas von ihrer Erkrankung verstanden? "Oh, sehr viel", schildert Mutter Christina. Neulich habe die Vierjährige gesagt: Ich will leben und nicht sterben! Sie habe es verstanden, als sie ihre zuvor taube Hand wieder spürte. Sie habe verstanden, warum die Haare ausgegangen sind. Und der Vater fügt hinzu: "Wir sind komplett ehrlich mit Ella. Wir haben ihr nie gesagt, das wird schon wieder. Sie weiß ganz genau, was das Schlimmste ist, was passieren kann."

Der Würzburger Kinderonkologe Prof. Paul-Gerhardt Schlegel
Foto: Lisa Marie Waschbusch | Der Würzburger Kinderonkologe Prof. Paul-Gerhardt Schlegel

Nach der zweiten Operation folgten für Ella zwei "Hochdosen" Chemo – dabei wird eine um das Vielfache höhere Menge verabreicht als bei einer herkömmlichen Krebsbehandlung. Für eine Protonenbestrahlung, die schonender ist als gängige Bestrahlungen, hatte sich die Familie aus Mittelfranken in Essen vorgestellt. Doch weil eine abschließende Kontrolle im MRT eine auffällige Stelle zeigte, musste Ella zunächst ein drittes Mal operiert werden. "Das war die einzige unerwartete Geschichte, die uns zeitlich aus dem Plan gerissen hat", sagt Mutter Christina. Wobei, fügt sie an, bei der Diagnose Krebs höre man mit dem Planen eigentlich ohnehin auf.

Mitte August 2020 ging es für die Familie nach Essen. 30 Bestrahlungstermine standen an, 30 Mal wurde Ella in Narkose versetzt. Das Kontroll-MRT im Oktober war sauber. Im November konnten die Ärzte dem Mädchen den Katheter für die Chemo nach knapp einem Jahr entfernen. "Damit ist ein kleines Gefühl der Normalität gekommen, dass man Ella normal anfassen, normal in den Kindersitz setzen konnte", sagt Vater Joachim. "Oder dass die Schwester nicht daran zieht."

Kinder können intensivere Therapien besser verkraften

Die ganz jungen Patienten, sagt Paul-Gerhardt Schlegel, können viel mehr verkraften und aushalten als Erwachsene. "Die Biologie der Erkrankungen ist anders und damit auch die Intensität der Therapie, die wir anwenden können, weil die Organe noch so jung sind", erklärt der Würzburger Spezialist. Der Körper eines Erwachsenen sei oft so geschwächt, dass ein zweiter oder dritter Therapieanlauf einfach nicht mehr möglich sei oder man den Patienten damit so gefährden würde, dass er daran sterben könne.

"Man muss eins sagen: Wenn wir als Eltern damit nicht klar kommen, wie soll das Kind es dann überhaupt schaffen?"
Joachim B., Vater der kleinen Ella

Hinter Familie B. liegen schwere Monate. Und die Zeit der Sorgen ist noch nicht vorbei. In jedem Quartal muss Ella zur Kontrolle. Eine Zelle reiche aus, dass der Tumor zurückkommt, sagen die Ärzte. "Die Angst fährt natürlich ein Stück weit mit", sagt Joachim B. Wie sie mit der Erkrankung umgegangen sind? "So gut, wie man halt mit einem Kind im Todeskampf klar kommen kann", sagt der Vater. "Man muss eins sagen: Wenn wir als Eltern damit nicht klar kommen, wie soll das Kind es dann überhaupt schaffen?" Joachim und Christina B. haben viel miteinander über die Krankheit gesprochen, sich gegenseitig den nötigen Rückhalt gegeben. "Für uns war klar: Wir müssen stark sein für sie."

Für das neue Jahr hat die kleine Familie aus Mittelfranken bescheidene Wünsche. "Als Familie zusammen und vor allem gesund sein", sagt Mutter Christina. Das Leben der Familie ist entschleunigt. Waren die Eltern früher schon vor den Kindergärtnerinnen am Kindergarten, um ihre Tochter abzugeben, kommen sie heute lieber zu spät. Jeden Tag genießen und Schritt für Schritt weiter gehen, ohne viel zu planen - darum geht es im Moment. Am Ende des kleinen Spaziergangs sagt Joachim B.: "Die Probleme, die wir früher hatten, sind heute nichtig. Jetzt kennen wir Schlimmere."

Immuntherapeutische Ansätze

Die Kinderonkologie der Uniklinik Würzburg arbeitet intensiv an der Entwicklung neuer Immuntherapien, die besonders Tumore, die immer wieder zurückkommen, langfristig heilen können. Mit diesem Therapieansatz soll das eigene Immunsystem mobilisiert und der Körper so in die Lage versetzt werden, noch verbleibende Tumorzellen zu erkennen und ganz gezielt zu zerstören.
Einer dieser Ansätze sind "immunologisch aktive Killerzellen", sogenannte CAR T- Cells. Diese T-Immunzellen werden aus dem Blut des Patienten gewonnen und außerhalb des Körpers gentechnisch so aufbereitet, dass sie Leukämie-Zellen oder Krebszellen erkennen und ganz gezielt zerstören können.
Für die Entwicklung hat die Würzburger Universitäts-Kinderklinik eine neue Arbeitsgruppe um den internationalen Spezialisten Dr. Ignazio Caruana gegründet. Das Ziel: die neuen Krebstherapien für Kinder und Jugendliche auch in Würzburg zur Verfügung zu stellen. 
Unterstützt wird die Kinderonkologie von der Elterninitiative leukämie- und tumorkranker Kinder Würzburg e.V.
Quelle: lmw
 
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