
Vor 60 Jahren wurden die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegründet. Leiter der Einrichtung in Ludwigsburg ist seit Oktober 2015 Jens Rommel. Im Fall des Anfang der Woche aus den USA abgeschobenen SS-Mannes Jakiw Palij sind ihm die Hände gebunden.
Er kann nur ein Verfahren gegen den Ukrainer in Gang bringen, wenn neue Hinweise auftauchen, die belegen, dass er eigenhändig getötet oder durch seine Handlungen Ermordungen unterstützt hat. Im Interview informiert der Jurist, der unter anderem in Würzburg studiert hat, warum sich die Beweislage nicht geändert hat – und über die Schwierigkeiten, heute noch NS-Verbrechen aufzuklären.
Herr Rommel, Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland, fordert alle Rechtsmittel zu prüfen. Kann der Fall Palij neu aufgerollt werden?
Die Beweislage beziehungsweise der Verdacht hat sich durch die Überstellung aus den USA überhaupt nicht verändert. Es ist jetzt nicht automatisch ein neues Verfahren in Gang gekommen, nur weil der Betroffene nach Deutschland gebracht worden ist.
Was werden Sie tun, um ein neues Verfahren in Gang zu bringen?
Wir haben am Dienstag und Mittwoch keine neuen Maßnahmen ergriffen, weil sich eben durch den Ortswechsel des Betroffenen überhaupt nichts geändert hat. Die Hürden in Deutschland sind viel höher als in Amerika, wo die Lüge über die SS-Mitgliedschaft gereicht hat. In Deutschland müssten wir beweisen, dass jemand eigenhändig einen Mord begangen hat – oder dass er durch seine Handlungen, durch seinen Dienst Ermordungen unterstützt hat.
Befürworten Sie dennoch die Abschiebung aus den USA nach Deutschland? Oder war das viel zu spät?
Für uns ist der Maßstab, ob wir diese Person in Deutschland vor Gericht bringen können. Das war vor einigen Jahren nicht der Fall und ist heute immer noch sehr schwierig. Deshalb wurde diese Entscheidung jenseits jeder strafrechtlichen Überlegung getroffen.
Trotz der, wie Sie sagen, geringen Hürden in den USA, ist Palij auch dort nicht vor Gericht gestellt worden.
Die Vereinigten Staaten haben ihn nicht wegen Mordes verurteilt – sondern ihm die amerikanische Staatsangehörigkeit entzogen, weil er in den 50er Jahren falsche Angaben gemacht hat über das, was er im Zweiten Weltkrieg getan hat. Das ist natürlich etwas anderes, als persönliche Schuld festzustellen bei Staatsverbrechen von ungeheurem Ausmaß.

Dann war wohl das Interesse in den USA, Palij zur Rechenschaft zu ziehen, gering.
Von hier aus kann ich nicht beurteilen, ob es möglich gewesen wäre, ihn in den USA vor Gereicht zu stellen. Dort gibt es eigene Rechtsvorschriften, die beachtet werden müssen. Tatsache ist, dass es nicht erfolgt ist. Er ist eben ausgebürgert worden. Und in Deutschland müssten wir ihm, um ihn vor Gericht zu stellen, nachweisen, dass er durch seinen Dienst zumindest Morde anderer Leute erleichtert hat.
Könnte er also auch „nur“ ein Bewacher gewesen sein, der zu diesem Dienst gezwungen wurde?
Das sind ja zwei verschiedene Ebenen. Die eine Frage ist: Wie freiwillig war die Beteiligung bei diesen Trawniki-Mannschaften? Das lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern war abhängig von der Zeit und vom Ort, wo das erfolgt ist. Die andere Frage ist: Können wir belegen, was jemand gemacht hat nach seiner Ausbildung in diesem Lager Trawniki? Im aktuellen Fall haben wir keine Erkenntnisse dazu, in welcher Einheit er gedient hat. Deswegen konnten wir den Zusammenhang nicht beweisen zwischen dem Dienst in einer bestimmten Einheit und den jeweiligen Morden im Dienst in einer bestimmten Einheit.
Wollen Sie nicht weiter aktiv werden?
Von Ludwigsburg aus können wir den Betroffenen nicht vernehmen. Das müssen die Staatsanwaltschaften beziehungsweise die Polizei vor Ort machen – aber nur im Rahmen eines laufenden Ermittlungsverfahrens.
Zuvor müssten Sie sich auf die Suche machen nach neuen Beweismitteln.
Wir haben alles an die Staatsanwaltschaft nach Würzburg weitergeleitet, was wir an Erkenntnissen hatten. Man muss ganz nüchtern sagen: Die Anforderungen des Rechts und die Beweislage haben sich seit Montagabend nicht geändert.
Warum dann die Abschiebung aus den USA?
Die Lage nehmen die USA wohl anders wahr. In Deutschland läuft kein Ermittlungsverfahren gegen ihn – insbesondere ist kein Haftbefehl ausgestellt. Er muss also aktuell nicht damit rechnen, in Untersuchungshaft genommen zu werden.
Worin unterscheidet sich der Fall Palij von dem Fall Demjanjuk? Das Urteil gegen Demjanjuk aus dem Jahr 2011 gilt ja als historisch.
Demjanjuk wurde nach seiner Ausbildung im Trawniki-Lager im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt. Das war eine stationäre Einrichtung, deren Zweck darin allein bestand, jeden angekommenen Häftling sofort zu ermorden. Wir wissen, dass Demjanjuk dort als Wachmann gearbeitet hat. Damit war beim ihm die Verbindung klar: Jede Tätigkeit dieser Mannschaften vor Ort hat die Ermordung, die dort Tag für Tag stattgefunden hat, unterstützt. Egal, was jemand an dem einzelnen Tag gemacht hat. Diesen Zwischenschritt zwischen jeweiligen Morden auf der einen Seite und dem Dienst eines Beteiligten in einer bestimmten Einheit auf der anderen Seite, den schaffen wir in dem aktuellen Fall nicht.
Diese Ansicht, dass eine Verbindung genügt, gab es vor Demjanjuk nicht.
In Deutschland hat sich das Gesetz nie geändert – es gilt immer noch dasselbe Strafgesetzbuch wie zur Tatzeit. Aber der Blick hat sich verändert, wie weit man den Kreis der Verantwortlichen auch juristisch ziehen kann. Ende der 60er Jahre hat der Bundesgerichtshof – gerade zu Auschwitz – gesagt: Nicht jeder, der in diese Vernichtungsmaschinerie eingegliedert war und der dort irgendwie tätig geworden ist, ist für alles verantwortlich.
Wie war das im Fall Oskar Gröning, dem „Buchhalter von Auschwitz“?
Zu ihm hat der Bundesgerichtshof dann 2016 festgestellt: Die allgemeine Dienstausübung in einer bestimmten Funktion in Auschwitz kann ausreichen, dass man mitverantwortlich ist für die Ermordeten in dieser Zeit. Diese Verschiebung weitete natürlich den Kreis der theoretisch in Betracht kommenden Verdächtigen enorm aus. Allerdings müssen wir bei unserer Arbeit feststellen, dass die allermeisten Verdächtigen bereits gestorben sind. Wir haben die Geburtsjahrgänge 1927 bis zurück 1919 im Blick – das heißt, der allerjüngste ist 91 Jahre alt.
Fritz Bauer, ohne den es die Auschwitz-Prozesse Anfang der 1960er Jahre nicht gegeben hätte, wäre sehr erfreut gewesen, wenn unter seiner Zeit als Generalstaatsanwalt von Hessen ein Urteil wie im Fall Gröning möglich gewesen wäre.
Die Position Fritz Bauers war: Jeder, der in Auschwitz anwesend war ist schon allein deshalb mitschuldig. So weit geht der Bundesgerichtshof auch heute nicht. Aber er sagt: Wenn wir wissen, welche Position jemand ausgeübt hat und wie diese Funktion das System gestützt hat, dann kann man auch sagen, dass dieser Dienst die systematischen Morde in diesem Lager gefördert hat. Es ist also nicht ganz Fritz Bauers Auffassung, aber ein deutlicher Schritt in seine Richtung.
Es tauchen ja immer wieder Unterlagen auf. Wenn sie zum Beispiel Jakiw Palij belasten, würden Sie wieder tätig werden?
Egal, woher Hinweise welcher Art auch immer kommen, werden wir sie bewerten und mit dem abgleichen, was wir schon wissen. Natürlich suchen wir auch selbst aktiv, soweit es Hinweise auf Fundstellen gibt, die bislang nicht ausgewertet wurden. Und natürlich reichen wir unsere Erkenntnisse an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter.
Das ist wohl generell das Problem bei Ihrer Suche?
Die Beweisführung ist 75 Jahren nach den Verbrechen insgesamt sehr schwierig. Selbst bei klaren Strukturen wie in den Konzentrationslagern müssen Dokumente in den unterschiedlichsten Archiven aufgespürt werden. Viele Quellen sind auch in Archiven der Alliierten lange nicht zugänglich gewesen und werden – wie derzeit vor allem in Moskau – von uns gerade auf Lagerpersonal hin durchgesehen in der Hoffnung, dass wir dort noch Hinweise auf lebende Beschuldigte finden.
Wann sind diese Archive geöffnet worden?
Das ging nach der Wende in den 90er Jahren los. Aber die Unterlagen sind in verschiedenen Einrichtungen archiviert, die zum Teil dem Militär oder dem Geheimdienst unterstehen. Es ist sehr aufwändig zu klären, was wirklich zugänglich ist und wo wir uns auch etwas für unsere Ermittlungen versprechen.
Wie viele Ermittlungen führen sie gerade durch?
In Ludwigsburg konnten wir in den letzten Jahren im Durchschnitt jeweils rund 30 Verfahren vorbereiten: Wir versuchen zu beschreiben, was an einem bestimmten Ort geschehen ist und als Mord strafbar ist. Danach suchen wir Personen, die daran beteiligt sein könnten. Und wenn wir jemanden als lebend ermitteln, geben wir den Fall an die Staatsanwaltschaft vor Ort ab. Zuletzt war das vor allem Personal aus den Konzentrationslagern: im vergangenen Jahr aus den Lagern Buchenwald, Mauthausen und Ravensbrück. Und dieses Jahr prüfen wir andere Konzentrationslager, zum Beispiel Sachsenhausen, Mittelbau, Flossenbürg und Groß-Rosen. Wir hoffen, dass wir auch da noch lebende Beschuldigte finden, deren Fall wir an die Staatsanwaltschaften weiterreichen können.
Wie viele Personen sind derzeit angeklagt?
Derzeit sind vier Personen in Deutschland angeklagt, weil sie als Wachmänner in Konzentrationslagern gearbeitet haben sollen. Die Chancen auf Hauptverhandlungen sinken wegen des Alters der Beteiligten rapide. Für ein rechtsstaatliches Verfahren muss ein Beschuldigter nicht nur am Leben sein, sondern auch körperlich und geistig in der Lage, ein Verfahren durchzustehen. An der fehlenden Verhandlungsfähigkeit scheitern auch die meisten Ermittlungen.
Sind Sie noch, wie es ihr Vorgänger Kurt Schrimm in seinem Buch schreibt, international unterwegs auf Nazi-Jagd?
Wir sind kaum noch in Südamerika unterwegs. Vielmehr haben wir unseren Schwerpunkt bei der Suche nach Lagerpersonal. Dazu werten wir viele Quellen aus, sei es an den Standorten der Konzentrationslager in Zusammenarbeit mit den dortigen Gedenkstätten. Auch die Archive in Moskau sind zurzeit bei uns ganz vorne, weil wir uns da noch aus den Beuteakten der Roten Armee Erkenntnisse erhoffen.
Ihre Arbeit wird wohl bald enden. Und dann?
Eine Jahreszahl kann ich Ihnen nicht nennen. Aber die Justizminister, die die Zentrale Stelle tragen, haben unseren Ermittlungsauftrag erneuert – trotz aller Schwierigkeiten. Sie haben aber auch gesagt: Wenn diese Ermittlungen beendet werden, dann sollen die Akten nicht einfach im Archiv verschwinden. Das, was wir hier in den vergangenen 60 Jahren zusammengetragen haben, ist nicht nur ein Spiegel der Verbrechen und der Verbrecher, sondern zeigt auch – mit Licht und Schatten – wie die Bundesrepublik mit dieser Vergangenheit umgegangen ist. Der Lernprozess der Nachkriegsgesellschaft mit allen Fehlern und den Leistungen ist hier abzulesen. Deshalb soll in Ludwigsburg ein Forschungs- und Informationsort entstehen.
Wie könnte er aussehen?
Es könnte ein Ort sein, an dem man viel erfahren kann über den Umgang einer Gesellschaft mit Massen- und Kriegsverbrechen: Wo beginnt die Verantwortung des Einzelnen in einem verbrecherischen System? Ab wann kann man nicht mehr sagen: Ich habe ja nur Befehlen gehorcht? Es war halt Krieg? Ab wann darf man nicht mehr mitmachen? Und für die Gesellschaft danach stellt sich die Frage, wie man rechtsstaatlich ein Unrechtssystem aufarbeiten soll: National oder international? Mit dem eigenen Strafrecht oder völkerrechtlichen Regeln? Wann soll Schluss sein? Wenn man nicht alle verfolgen kann, wie trifft man die Auswahl? Ohne dass ich die Verbrechen der Nationalsozialisten mit späteren Verbrechen vergleichen will – die Fragen für einen Umgang stellen sich auch in anderen Konflikten bis in unsere Gegenwart.
Seit 60 Jahren gibt es die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen? Wie lautet Ihre Bilanz?
Die Bundesrepublik hatte sich damals entschieden, nicht mit einem Sonderstrafrecht und nicht mit besonderen Gerichten diese Verbrechen aufzuarbeiten. Das war eine Weichenstellung, die sich ganz klar unterscheidet von den Alliierten, die sich in den Nürnberger Prozessen und anderen auf besondere Vorschriften gestützt haben. Aus dieser Entscheidung sind ganz viele Schwierigkeiten innerhalb des Justizsystems entstanden, von der Verjährung angefangen über das Handeln auf Befehl bis zur persönliche Verantwortung. Manche Probleme haben sich aus dem Ost-West-Konflikt ergeben. Die Aufarbeitung abträglich war auch, dass zahlreiche Beamte und Richter, die schon ihre Ämter in der Nazizeit ausgeübt hatten, in die Nachkriegsgesellschaft integriert worden sind. Sodass man insgesamt sagen muss: Es ist ernüchternd, wenn man auf die Zahlen und die Strafen schaut. Wenn es richtig ist, heute Personen zu verfolgen, die ganz unten in der Hierarchie standen und sehr jung waren, kann es unfair erscheinen, wie viele Täter davon gekommen, die eher hätten verurteilt werden müssen.
Zu dieser Ansicht hat sicher auch Fritz Bauer beigetragen.
Durch die Prozesse, auch durch Fritz Bauer, und andere Verfahren ist es gelungen, diese Sachverhalte in den öffentlichen Hauptverhandlungen festzustellen. Und damit auch, dass nicht ein anonymes Regime diese Verbrechen begangen hat, sondern Menschen, die sich auch anders hätten entscheiden können. Insgesamt ist es, glaube ich, ein Versuch, der es wert ist, unternommen zu werden. Ich werde oft gefragt: Was wollte ihr noch mit den alten Männern? Auch das ist eine ist bewusste Entscheidung der deutschen Nachkriegsgesellschaft gewesen: Der Bundestag hat beschlossen: Mord verjährt nicht. Und damit ist gerade mit Blick auf die NS-Verbrechen der Auftrag verbunden, eine Aufklärung bis zu Schluss wenigstens zu versuchen.
Ganz einfach! SS-Selbst schuld!