Katarina Barley steht im Stau, in Würzburg warten ihre Parteifreunde. Sie verspätet sich. 45 Minuten. Als sie im Fechenbach-Haus ankommt, jubelt der Saal – dabei ist Barley als Justizministerin zuletzt massiv in die Kritik geraten. Sie hält Ihre Rede, beantwortet Fragen und nach weniger als einer Stunde ist sie wieder weg. Ihr Tag ist eng getaktet.
Die Juristin ist momentan fast sieben Tage die Woche unterwegs. Berlin. Brüssel. Trier. Dazwischen: Wahlkampf für Europa. Am Samstag war die SPD-Spitzenkandidatin bei ihren Genossen in Würzburg. Anschließend: Interview im Bürgerspital. Sie kritisiert Angela Merkel, spricht über ihre Liebe zu Europa und die Kunst des Kompromisses. Es gibt Königsberger Klopse, Silvaner lehnt sie ab: "Den gibt's erst im Juni wieder."
Frage: In Ihrer Partei gelten Sie als Hoffnungsträgerin. Warum wollen Sie ausgerechnet nach Brüssel?
Katarina Barley: Als ich vor über einem Jahr zum ersten Mal gefragt wurde, Spitzenkandidatin zu werden, habe ich lange nachgedacht. Die Situation in Europa hat sich zugespitzt. Das Brexit-Chaos. Der Aufwind des Rechtspopulismus. Und mir machte der Zustand meiner Partei große Sorgen. Am Ende sagte ich zu – aus Liebe zu Europa, aus Liebe zu meiner Partei.
Sie tauschen damit Ministeramt gegen einfaches Abgeordnetenmandat. Anfangs waren Sie davon nicht überzeugt.
Barley: Das stimmt. Die Entscheidung ist mir wirklich nicht leichtgefallen. Als Juristin bin ich in meinem Ministerium von Menschen umgeben, die die gleiche Leidenschaft haben wie ich. Das ist ein besonderer Flair – eine ganz besondere Art zu reden, zu denken und zu arbeiten.
Im Europäischen Parlament sind Ihre Gestaltungsmöglichkeiten dagegen begrenzt.
Barley: Wissen Sie, ich habe mich schon in meinem Studium intensiv dem Parlamentarismus gewidmet und dabei gelernt: Es sind vor allem die gewählten Abgeordneten, die unsere Demokratie repräsentieren. Vielleicht ticke ich deshalb anders als andere. Mir ist Status nie wichtig gewesen.
Streben Sie denn ein Amt im Europäischen Parlament an?
Barley: Ich will vor allem eine gute Abgeordnete sein. Und dann: mal sehen. Kann sein, dass das eine sehr weibliche Herangehensweise ist. Mir geht es darum, etwas zu verändern.
Genug Arbeit gibt es. Europa vermittelt in den letzten Jahren den Eindruck, nur begrenzt handlungsfähig zu sein. Was läuft schief?
Barley: Ich vergleiche Europa immer mit einer Familie, in der alle unterschiedliche Interessen haben. Da muss man sich am Ende auch einigen. Ich bedauere es sehr, dass im politischen Diskurs die Wertschätzung für Kompromisse verloren gegangen ist. Es muss immer die eigene Lehre durchgesetzt werden – sonst wird einem vorgeworfen, die Interessen seines Landes zu verraten. Ich halte das für falsch.
Bei der Urheberrechtsreform und dem umstrittenen Artikel 13 ist Ihnen Ihr Kompromiss aber um die Ohren geflogen.
Barley: Die Reform geht weit über Artikel 13 hinaus. Es stimmt, dass im Koalitionsvertrag vereinbart ist: Wir lehnen eine Verpflichtung zum Einsatz von Uploadfiltern als unverhältnismäßig ab. Da steht aber auch, dass die Leistungen von Kreativen – auch im Netz – fair entlohnt werden müssen. Man hätte die Richtlinie zunächst ohne Artikel 13 verabschieden sollen. Das hat in der Regierung aber keine Mehrheit gefunden.
Dass Uploadfilter die Freiheit im Internet grundlegend beschneiden könnten, fällt da nicht ins Gewicht?
Barley: Ich halte Uploadfilter für den falschen Weg. Der Ball liegt jetzt beim Europäischen Parlament. Ziel muss sein, dass große Plattformen verpflichtet werden, für bestimmte Inhalte Lizenzgebühren zu zahlen. Ich bin der festen Überzeugung, Youtube wird einen Teufel tun, User-Inhalte in großem Umfang zu blockieren. Damit zerstören sie ihr Geschäftsmodell.
- Lesen Sie auch: Katarina Barleys Auftritt in Würzburg
Bereuen Sie es eigentlich, trotz Ihrer Kandidatur Justizministerin geblieben zu sein – bei all der Kritik in den letzten Wochen?
Barley: Als Ministerin verhandele ich aktuell hochkomplizierte Dossiers – nicht zuletzt beim Brexit. Ich weiß, mit vielen dieser Themen mache ich mir gerade keine Freunde. Jetzt aber im falschen Moment aufzuhören und jemand anderen Lösungen finden zu lassen, wäre egoistisch.
Als Spitzenkandidatin fordern Sie bei jeder Gelegenheit ein „soziales Europa“. Was heißt das eigentlich?
Barley: Die europäische Idee entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Man wollte die Wirtschaft der einzelnen Staaten miteinander verflechten, um einen weiteren Krieg zu verhindern. Seitdem spielen vor allem die Interessen von Unternehmen und Banken eine Rolle. Wir kämpfen für ein Europa, das den Bürgern soziale Grundrechte garantiert.
Das klingt sehr allgemein.
Barley: Ich werde gerne konkret. In jedem Land der EU müssen die Menschen von ihrer Arbeit leben können. Das bedeutet: Wir wollen den Dumpingwettbewerb eindämmen und verhindern, dass Menschen durch halb Europa reisen müssen, um ihre Familien zu ernähren. Dafür brauchen wir einen europaweiten Mindestlohn, eine europäische Arbeitslosenrückversicherung und ein Instrument zur Bekämpfung von Kinderarmut.
Also Umverteilung auf Kosten Deutschlands?
Barley: Auf diese Legende fallen leider noch immer viele Leute rein. Es muss nicht darum gehen, "Geld in den Süden zu schicken", es reichen gute europaweite Regelungen. Nehmen wir den länderspezifischen europäischen Mindestlohn: Die Menschen in Europa könnten überall von ihrer Arbeit leben. Bei uns stiege der Mindestlohn auf 12 Euro.
Aber ist es nicht gerade der Finanzminister Olaf Scholz, der bei Eurozonen-Haushalt, der Digital- und der Finanztransaktionssteuer auf die Bremse drückt?
Barley: Vor allem die Kanzlerin hätte etwas enthusiastischer auf die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron reagieren können. Wir hätten schneller auf seine Ideen antworten müssen. Aber gerade die Finanztransaktionssteuer treibt Olaf Scholz intensiv voran. Und auch bei der Digitalsteuer haben Deutschland und Frankreich ein gemeinsames Konzept vorgelegt. Es gibt aber drei Länder, die dagegen sind – unter anderem Irland. Wen wundert's? Bei Steuern gilt leider das Einstimmigkeitsprinzip.
Das heißt, am Ende läuft es wieder auf einen halbgaren Kompromiss hinaus?
Barley: Da ist es schon wieder. Unterschiedliche Länder sehen das eben anders. Warum kann man nicht einfach sagen: ein Kompromiss. Warum muss der denn immer halbgar oder faul sein?
Weil Google und Facebook so Schlupflöcher finden, die Besteuerung zu umgehen?
Barley: Mit der Datenschutzgrundverordnung haben wir beispielsweise einen Weg gefunden, die Internetriesen an den Hammelbeinen zu kriegen. Bußgelder in Millionenhöhe wurden verhängt. Hilfreich wäre es, wenn wir endlich das Einstimmigkeitsprinzip überwinden könnten. Klar ist aber auch: Deutschland kann sich in Europa nicht immer alleine durchsetzen.
Sie wollen Euphorie für Europa entfachen, schlagen aber auf Veranstaltungen eher leise Töne an. Wie passt das zusammen?
Barley: Mein Team sagte mir anfangs auch immer, ich müsse in meinen Reden mehr aufdrehen. Nein, muss ich nicht. Das ist nicht mein Stil. Bei mir ist es meist ganz still im Saal. Der Applaus am Ende der Rede ist das, was für mich zählt. Und ich bin überzeugt: Gerade in der Politik braucht es normale Menschen, keine gestanzten Schablonen.