Noch nicht essen, nur riechen!“, Martin Schulz bremst den Appetit. Leuchtend rot und prall liegen die Tomaten auf Tellerchen bereit. Aber bei der Mission Geschmack an diesem Vormittag im Veitshöchheimer Sensorikzentrum geht?s um genaues Beschreiben, nicht ums Essen. Zwölf Prüfer der Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau (LWG) sind zusammengekommen, um bayerische Tomaten zu verkosten. Genauer gesagt: um sie sensorisch zu bewerten. Fruchtig, krautig oder grün? Süßlich, würzig oder stechend? Mit dem Geruch der ganzen Frucht geht die Prüfung los.
„Die riecht nur nach Geiz!“
„Gibt es schon Meinungsbilder?“, fragt Martin Schulz in die Runde. Die Prüfer halten sich die Tomaten vor die Nase, schnüffeln, grübeln. „Die riecht nur nach Geiz!“ – „Chemisch oder muffig riecht sie gar nicht, würzig aber auch nicht wirklich.“ – „Fruchtig? Überhaupt nicht. Eigentlich fast neutral.“ Gemurmel und Meinungsdurcheinander im Labor. Zur Einstimmung hat Prüfleiter Martin Schulz die Runde erst einmal an gelben Cocktailtomaten riechen und darüber gemeinsam diskutieren lassen. Nachher, bei den roten Tomaten, um die es heute geht, riecht, schmeckt, bewertet, beschreibt jeder für sich. „Ich hab‘ extra wenig Kaffee getrunken heute“, sagt einer. „Nur zwei Schluck.“
Seit knapp einem Jahr gibt es an der Landesanstalt in Veitshöchheim das Sensorikzentrum, das aussieht wie ein fensterloses Zahntechnikerlabor. Ziemlich steril und alles in Weiß, nichts soll ablenken, beeinflussen, stören. Milchglasscheiben trennen die 24 Prüfplätze samt Waschbecken, damit keiner beim Schnuppern und Gustieren gestört wird – und nicht beim Nebenmann auf den Prüfbogen spickt.
Aromaeindrücke erkennen - das muss man können
Die LWG ist dabei, ein sensorisches wissenschaftliches Panel aufzubauen. Denn bei Äpfeln, Spargel, Tomaten und anderem Gemüse ist vieles eine Frage des Geschmacks. Aber die Aromaeindrücke einzeln zu erkennen, sie objektiv zu beschreiben, nüchtern einzuordnen – das muss man können. Also: erst einmal lernen und trainieren. Deshalb schult die LWG interessierte Mitarbeiter in Sachen Sensorik. Und deshalb sitzen Weinanalytiker und Rebschnittexperten aus Veitshöchheim an diesem Morgen mit Gärtnern und Gemüseexperten der Versuchsanlage in Bamberg zusammen und riechen an sechs Rispentomaten, am Nachmittag dann an sechs Naschtomaten.
„Jetzt riecht's aber“
Inzwischen durften die Prüfer die Tomaten aufschneiden und am Inneren schnuppern. „Jetzt riecht?s aber“, sagt einer. Krautig? Fruchtig? Stechend? Chemisch? Martin Schulz will es genau wissen. „Eine gute Sorte riecht typisch Tomate“, sagt der Prüfpanelleiter. Dem Versuchsingenieur am Gemüsebauversuchsbetrieb in Bamberg geht es um eine Standortbestimmung der bayerischen Tomate. Vier Sorten Rispentomate aus sechs mittel- und oberfränkischen Anbaubetrieben hat er für die Prüfung mitgebracht. Sie wurden mit unterschiedlichen Strategien, mit unterschiedlichen Nachttemperaturen angebaut, zu verschiedenen Zeitpunkten geerntet. Was Schulz wissen will: Schmeckt man das?
Hinter der Probeverkostung im Sensorikzentrum stehen große Zahlen – und die Überlegung, wie sich bayerisches Obst und Gemüse (noch) besser am Markt halten lässt.
„Die Leute essen ja nicht mehr Tomaten“
In den vergangenen Jahren hat die Anbaufläche der roten Früchte stark zugenommen, sagt der Versuchsingenieur. 2015 bauten laut Statistischem Landesamt 275 bayerische Betriebe auf gut 52 Hektar unter hohen begehbaren Schutzabdeckungen Tomaten an und ernteten 14.500 Tonnen. Zwei Jahre später waren es einschließlich Gewächshäusern 76 Hektar Anbaufläche, auf denen 278 Betriebe 23.270 Tonnen ernteten. Aber, sagt Schulz: „Die Leute essen ja nicht mehr Tomaten.“ 19 Kilo sind es den Statistiken zufolge pro Kopf pro Jahr, davon die Hälfte als „Frischtomate“, der Rest in verarbeiteter Form im Ketchup und auf Pizza. Nur ein Bruchteil davon komme aus Deutschland, sagt Schulz: „Ein Kilo“.
Aber jetzt „explodiere“ der Anbau in Bayern, das heißt: Die bayerische Tomate muss die importieren Früchte verdrängen. Allein China, weltgrößter Tomatenanbauer, bringt jährlich 50 Millionen Tonnen auf den globalen Markt. Schulz sagt: „Man braucht ein regionales Produkt, das gut schmeckt.“
Süß, sauer, bitter? Fruchtig, krautig, würzig, grün?
Deshalb heißt die Frage an diesem Vormittag: „Wie stellt sich die bayerische Tomate dar?“ Die sechs Rispentomaten sind aufgeschnitten. „So, jetzt geht?s ans Schmecken.“ Süß, sauer, bitter? Fruchtig, würzig, krautig, grün? „Geschmack beginnt an der Zunge“, sagt Prüfleiter Martin Schulz in die geschäftige Stille. Die Prüfer kauen, schmecken, spülen den Mund mit Wasser aus. Ob die Tomate einen Nachgeschmack hat? Ob das Fruchtfleisch weich, saftig oder schalenfest ist? „Schmecken Sie weiter!“, sagt Martin Schulz, „Wie ist Ihr Eindruck im Rachenraum?“ Und das Mundgefühl? Mehlig, wässrig, brennend, adstringierend?
„Jetzt dürfen Sie subjektiv sein“
„Positiv“, sagt einer. „Die hier war etwas wässrig“, meint der Nebenmann. Ganz am Schluss geht?s darum, wie den Prüfern die jeweilige Tomate gefällt. „Jetzt dürfen Sie subjektiv sein“, sagt Schulz und bittet um Akzeptanzwerte von 1 = schlecht bis 9 = sehr gut. Vor zehn Jahren haben die Gemüseanbauer der Landesanstalt schon einmal Tomaten professionell verkosten lassen, vom Julius-Kühn-Institut in Quedlinburg. Das am Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen entwickelte Prüfformular nutzt die LWG jetzt wieder.
„Wir wissen, was gut ist und was nicht“, sagen die Bamberger Gemüsegärtner Josef Eichhorn und Wolfgang Hollmach und beugen sich nach knapp einer Stunde über die Reste der geprüften Tomaten. Euphorie sieht anders aus. „Überraschend, dass die alle nach nichts riechen.“ Kollege Hermann Foos stimmt zu. „Das war alles nichts.“
Es brauche einige Übung, seinen Geschmack zu schulen, sagt LWG-Präsident Dr. Hermann Kolesch über das wissenschaftliche Panel, das die Landesanstalt intern gerade aufbaut. Allein die Grundgeschmacksarten salzig, sauer, bitter und süß voneinander zu unterscheiden – was gemeinhin nicht schwierig scheint, treibt den Teilnehmern im Sensorikzentrum Schweißperlen auf die Stirn. Schnell wackeln die Geschmackseindrücke, schnell wird man unsicher bei der Charakterisierung, die objektiv sein soll. „Es ist nicht immer schön, was rauskommt“, sagt Schulz über die ersten Ergebnisse angehender Prüfer beim Sinnestraining.
Mit dem Geschmack Gründe finden: Warum ist ein Produkt gut oder schlecht?
Wein, Brände, Käse, Äpfel, Spargel, Honig und nun eben Tomaten sind im ersten Jahr im Sensorikzentrum schon geprüft worden. Im Hintergrund immer mit der Frage, wie das regionale Obst und Gemüse besser am Markt ankommen kann. Welche Sorten bringen im Frühjahr, Sommer oder Herbst das beste Tomaten- oder Apfelaroma zum Verbraucher? Welcher Spargelboden verspricht den besten Genuss? „Die Ergebnisse liefern Ansätze, wie die Produktqualität verbessert werden kann, also Sortenwahl, Anbaustrategie, Einsatz von geschmacksfördernden Mittel“, sagt Martin Schulz. „Wir wollen Gründe finden, warum ein Produkt ankommt oder schlecht ist.“
Er selbst weiß an diesem Vormittag übrigens auch nicht, von welchen Betrieben die Rispentomaten stammen und wie sie angebaut wurden. „Das würde mich nur beeinflussen.“ Am Nachmittag noch die Cocktailtomaten – dann sind die Geschmacksnerven endgültig erlahmt. In Bamberg werden die LWG-Mitarbeiter die Ergebnisse auswerten – und an die Gärtnereien weitergeben und selbst Schlüsse daraus ziehen für Anbau und Zucht. Im September gibt?s wieder im Sensorikzentrum die nächste Runde – für Prüfer und Tomaten.
Was ist Sensorik?
Sie beschäftigt sich mit der Wahrnehmung, Beschreibung und Bewertung von Produkteigenschaften mit den Sinnesorganen. Also mit den visuell, olfaktorisch, gustatorisch, taktil und auditiv wahrgenommenen Eindrücken – durch sehen, riechen, schmecken, tasten, hören. Für die Beurteilung des sensorischen Wertes von Lebensmitteln ist der Mensch mit seinen Sinnesorganen schlicht das wichtigste Messinstrument. Bei einer objektiven analytischen Prüfung untersuchen geschulte Prüfer die Proben nach genauen Vorgaben – unabhängig von persönlichen Neigungen und „Geschmäckern“.
Das Sensorikzentrum der Bayerischen Landesanstalt für Weinbau und Gartenbau LWG wurde im September 2017 eröffnet (Gesamtinvestition: über 600.000 €). Es bietet 24 Einzelprüfplätze, individuelle Lichtstimmungen (Tageslicht, rot, grün, blau) sind simulierbar, die Luftfeuchtigkeit kann gesteuert, die Raumluft reguliert werden.