
Ein kaputtes Knie mit einem Stück aus der Nase flicken? Geht es nach Dr. Oliver Pullig und Dr. Sarah Nietzer könnte das für Patienten mit Knie-Arthrose in einigen Jahren Realität sein.
Die beiden Würzburger Wissenschaftler untersuchen in zwei Studienprojekten, wie sich mit körpereigenem Knorpel aus der Nase Gelenkverschleiß im Knie behandeln lässt. Nur: Ist das eine echte Alternative zur künstlichen Prothese – und wie genau soll das funktionieren?
Der Nase-Knie-Knorpel ist ein Arzneimittel - nur eben aus menschlichen Substanzen
Die Operation Nase-ins-Knie beginnt in der Nase. In einer HNO-Klinik wird den Patienten zunächst ein Stück Nasenscheidewand entnommen, sieben mal sieben Millimeter klein, erklärt Oliver Pullig. In einer Transportlösung gelangt das winzige Gewebestück zu ihm und seiner Kollegin Sarah Nietzer.
Die beiden Biologen arbeiten am Lehrstuhl für Tissue Engineering und Regenerative Medizin der Universitätsklinik Würzburg. In dem Gebäude am Röntgenring wechseln sich Labore und Büroräume ab. Hier entwickeln die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus menschlichen Zellen verschiedene Gewebearten – wie den Nase-Knie-Knorpel.

"Am Ende ist das Produkt, das wir herstellen, ein Arzneimittel", sagt Pullig. Nur eben nicht aus chemischen, sondern aus menschlichen Substanzen. "Es darf keine Verunreinigungen geben", sagt Nietzer. Deshalb stehen die technischen Assistenten und Assistentinnen "komplett vermummt" mit Schutzanzug, Maske und zwei Lagen Handschuhen im Reinraum. Unter sterilen Bedingungen zerschneiden sie das Nasengewebe, lösen die Zellen mit einer Verdaulösung aus der Knorpelmatrix, waschen sie und säen sie in einer Kulturflasche aus.
Auf einer Membran bilden die Zellen in den Würzburger Laboren neuen Knorpel
Zwei Wochen lang dürfen sie sich dann vermehren, sagt Pullig. "Am Ende haben wir eine ausreichende Zellzahl, die wir als Ausgangsmaterial für das Implantat nutzen." Die Zellen werden auf eine Membran gegeben und beginnen dort, neuen Knorpel zu bilden. Nach etwa vier Wochen komme der Tag, "vor dem wir Bauchschmerzen haben", sagt Pullig. Die Qualitätskontrolle, der Test, wie gut das Implantat gewachsen ist.

Vorhersehbar ist das nicht. "Lebende Zellen reagieren immer anders", sagt Pullig. In einer ersten Vor-Studie seien Knorpel-Implantate für rund 100 Patienten erzeugt worden. "Überwiegend" funktionierte das gut, bei einem Teilnehmer fiel das Implantat jedoch durch.
Bei der Qualitätskontrolle wird ein Querschnitt des Implantats eingefärbt und unter dem Mikroskop untersucht. Sarah Nietzer zeigt auf dem Bildschirm ihres Computers ein körniges, rotes Band: den entstandenen Knorpel. Ist dieser dick genug und gleichmäßig aufgebaut, "darf das Implantat ins Knie", sagt Nietzer.
Gut eine Stunde dauere diese Operation, erklärt Pullig. Das Knie werde geöffnet, der defekte Knorpelbereich abgetragen und das Implantat aus den Nasenzellen in derselben Größe aufgesetzt und angenäht. Ähnlich einem Pflaster, das auf eine Wunde geklebt wird.
Bei den Teilnehmern der Vorstudie sei der Eingriff sehr gut verlaufen, so Pullig. Langzeitdaten fehlten zwar noch, in der Zwischenauswertung seien die Patientinnen und Patienten aber zufrieden, teilweise auch begeistert gewesen. Ihr Produkt sei "mindestens so gut" wie andere künstliche oder biomedizinische Implantate, sagt Pullig.
Zudem gebe es zwei klare Pluspunkte: "Nasenzellen vermehren sich extrem gut", sagt der Biologe. So ließen sich vergleichsweise große Implantate herstellen. Und: Anders als Knorpelzellen aus dem Knie wachsen Nasenzellen auch bei älteren Patientinnen und Patienten über 55 Jahren noch gut.

Ist der Nasen-Knie-Knorpel also in der Zukunft ein Ersatz für künstliche Kniegelenke? Nein, sagt Pullig. Wenn das Knie komplett kaputt ist, führe an einem künstlichen Gelenk wohl kein Weg vorbei. Aber bei kleinen, mittleren und fortgeschrittenen Knorpelschäden könnte das Implantat aus Nasenknorpel helfen.
Insgesamt sollen rund 225 Patienten mit Arthrose behandelt werden
In der Vorstudie wurde das an Patienten mit eng umrissenem Knorpelschaden, etwa wegen einer Sportverletzung, erprobt. "Jetzt gehen wir einen Schritt weiter", sagt Pullig. In den beiden aktuellen Studienprojekten werden rund 225 Patienten mit patellofemoraler Arthrose behandelt, Menschen also, die größere Knorpelschäden auf der Rückseite der Kniescheibe und am gegenüberliegenden Oberschenkelknochen haben.
Die Universitätsklinik Würzburg fungiert dabei neben Basel als Herstellungszentrum für das Nasen-Knie-Implantat. Das Nasengewebe werde Patienten an verschiedenen klinischen Zentren in sieben europäischen Ländern entnommen, sagt Nietzer. Logistisch und organisatorisch eine "Mammutaufgabe".

Wenn zum Beispiel Nasengewebe unter isolierten Bedingungen von Zagreb nach Unterfranken gebracht werden müsse und vier Wochen später das fertige Implantat auf demselben Weg zurück, "ist das eine Herausforderung", sagt Nietzer. "Das Implantat ist nur drei Tage haltbar – innerhalb dieser Zeit muss es eingesetzt sein."
Wichtig ist: Das Implantat wird immer aus den eigenen Zellen des Patienten hergestellt - niemand bekommt Nasenzellen eines anderen Menschen ins Knie. Anders als zum Beispiel bei Organspenden ist die Gefahr von Abstoßungsreaktionen somit laut Nietzer gering.
Fünf Jahre dauern die Studien, danach wird die Zulassung bei der Arzneimittelagentur beantragt
Noch stecken die beiden Würzburger Wissenschaftler mitten in den Vorbereitungen. Auf fünf Jahre sind ihre beiden Studien ausgelegt. Danach stünde die Auswertung und der Antrag auf Zulassung bei der europäischen Arzneimittelagentur an. "Wenn alles gut läuft, könnte unser Implantat nach sieben Jahren als Produkt zur Verfügung stehen", sagt Pullig.
Spätestens im Januar 2025 aber wollen er und Sarah Nietzer mit den Studien starten. Dann könnte den ersten Patienten ein Stück Nasenscheidewand entnommen werden. Ein besonderes Risiko gebe es für die Studienteilnehmer nicht, sagt Pullig. Auch das Einsetzen des gezüchteten Knorpels laufe letztlich wie eine normale Knie-OP ab. Nur haben die Patienten statt einem künstlichen Implantat dann eben ein Stück Nase im Knie.