Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig es braucht, um die Ahnung einer Handlung oder einer Emotion zu wecken. Wobei: Es ist eben nicht wenig, was Ensemble und Regieteam hier gerade entwickeln, auf der Probebühne des Mainfranken Theaters in der Würzburger Oegg-Straße, mit den zerschrammten Stellwänden und der Mini-Showtreppe.
Denn darin liegt die Kunst: Zum Beispiel aus einem Stock ein Schwert werden zu lassen oder, wie in diesem Fall, aus einem Bananenkarton eine Filmkamera. Mit einer Geste, einem Blick, einer Melodie die Tür in eine andere Welt zu öffnen. Hier ist es die Welt der Jazzoperette "Märchen im Grand Hôtel", die am 30. November Premiere feiert. Dann natürlich mit Bühnenbild, Kostümen, Licht und jeder Menge Glamour.
"Staubkörnchen" sind die Details, die eine Szene erst schlüssig machen
Aber aller Glamour würde nichts nutzen, wenn die vermeintlichen Kleinigkeiten nicht stimmten: das genaue Timing eines Zwischenrufs oder die Richtung eines Blicks. Regisseur Tristan Braun nennt sie "Staubkörnchen", die Details, die eine Szene erst schlüssig machen. Wie das funktioniert, konnte das Würzburger Publikum in der vergangenen Spielzeit bei seiner glanzvollen Inszenierung der "Lustigen Witwe" erleben.
Doch zurück auf die glanzlose Probebühne. Tristan Braun und die Choreografin Mariana Souza feilen am Epilog der Operette von Paul Abraham, die 1934 in Wien uraufgeführt wurde. Genauer: am Happy End. Dieses wird durch einen unverhofften Heiratsantrag eingeleitet, den die exilierte spanische Infantin Isabella, gespielt von Mezzosopranistin Vero Miller, dem Zimmerkellner Albert (Julian Habermann) macht.
Und wenn Heiratsanträge schon im richtigen Leben sorgfältig geplant sein sollten, so gilt das für die Bühne in besonderem Maße. Zumal hier auch noch der enttäuschte ursprüngliche Bewerber, Prinz Andreas (Matthew Habib), mit im Spiel ist. Zu klären und zu üben ist also: Zögert der Erwählte mit seinem "Ja!", und wenn ja, wie lange? Wie reagiert die Menge? Wie der Abgewiesene?
Am Schluss sind das Niederknien, das "Ja!", diverse Rufe des Erstaunens und des Missfallens und das mitleidlose Beiseiteschubsen des bedauerlichen Prinzen genau getimt beziehungsweise choreografiert. Die Szene funktioniert. Sie wirkt mit ihren schnell abgefeuerten "Was?", "Hä?" und "Bäh!" ein bisschen wie eine Szene aus einem Film mit Louis de Funès.
Geschwindigkeit spielt hier überhaupt eine große Rolle, sagt Tristan Braun: "Ich habe lange überlegt, was die Essenz dieses Stücks ist. Es ist die unglaublich schnelle Folge der Gags. Die gibt für mich die Stimmung der Entstehungszeit wieder."
Das Stück mit seinen Figuren im Exil ist eine Art Tanz auf dem Vulkan
Womit der Regisseur nicht meint, dass 1934 eine besonders lustige Zeigt gewesen wäre. Im Gegenteil: Paul Abraham, in den frühen 1930ern mit Titeln wie "Viktoria und ihr Husar", "Die Blume von Hawaii" oder "Ball im Savoy" und mit Filmmusik einer der erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit, war als Jude schon aus Berlin vertrieben worden. Und auch Wien würde er bald verlassen müssen. Er floh über Paris nach New York, wo er aber nie Fuß fassen konnte. 1960 starb er in geistiger Umnachtung in Hamburg. Dass das Happy End von "Märchen im Grand Hôtel" nach Hollywood führt, wirkt vor diesem Hintergrund noch tragischer.
Das Stück mit seinen Figuren im Exil ist eine Art Tanz auf dem Vulkan, dessen Tempo Tristan Braun so erklärt: "Wenn man über Eis rennt, fällt man nicht. Man muss aber immer weiterlaufen." Dass ihm dabei szenischer Rhythmus so wichtig ist, erklärt sich vielleicht damit, dass Braun nicht nur Regisseur, sondern auch gefragter Barockgeiger ist.
"Ich weiß immer genau, was ich mit einer Szene erzählen will", sagt Braun. "Ich gehe deshalb mit großer Klarheit in die Proben." Das heißt aber nicht, dass der Regisseur haarklein vorschreibt, was wer wie zu tun hat. "Die Zeiten despotischer Regisseure sind vorbei. Es würde auch nicht meinem Naturell entsprechen."
Brauns Stil ist ein ausdrücklich kooperativer. Einer, der das kreative Potenzial des Ensembles miteinbezieht. "Es geht immer um die, die's dann auf der Bühne machen", sagt der Regisseur. "Alle müssen sich nackt machen in diesem Wechselbad der Gefühle."
Wenn es in einer Szene hakt, übernimmt der Regisseur die Verantwortung
Die Probenatmosphäre ist locker, ja verspielt. Immer wieder kommen Vorschläge, die der Regisseur meist aufnimmt - auch wenn zum Beispiel Vero Miller eine ihrer Ideen später nicht mehr so einleuchtend findet. "Ich find's gut", bestärkt Tristan Braun sie, "wir müssen's nur besser sortieren."
Aber wenn es in einer Szene hakt, übernimmt er die Verantwortung und überlegt so lange, bis er die richtige Idee hat: "Es war noch eine Szene offen, für ich keine Lösung hatte. Jetzt habe ich eine - wir proben sie heute Abend", kündigt er an.
"Märchen im Grand Hôtel" feiert am 30. November, 19.30 Uhr, in der Blauen Halle Premiere. Karten: Tel. (0931) 3908-124, karten@mainfrankentheater.de