
Am 31. Oktober wird vielerorts Halloween gefeiert. Kann zu viel Grusel bei Kindern Ängste auslösen? Professor Marcel Romanos, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg, erklärt, warum Kinder und Jugendliche besonders anfällig für Angsterkrankungen sind, warum Ängste in der Entwicklung von Kindern wichtig sind – und warum Eltern nicht alles von ihren Kindern fernhalten sollten.
Prof. Marcel Romanos: Ich habe noch nicht viele Kinder gesehen, die besondere Ängste bei Halloween entwickelt haben. Ängste können aber generell sehr schnell entstehen, und Kinder haben ein hohes Risiko, dass Ängste, die normalerweise in der Entwicklung auftauchen und an sich nicht krankhaft sind, doch zu einer Erkrankung werden. Das Kindes- und Jugendalter ist eine Hochrisikophase für alle Formen von Angsterkrankungen. Die ersten pathologischen Ängste, die im Leben auftreten können, sind spezifische Phobien und Ängste – zum Beispiel Tierphobien, oder solche vor bestimmten Personen oder Situationen.
Romanos: Zunächst einmal unterscheidet man grundsätzlich zwischen Furcht und Angst. Furcht ist die Emotion, wenn wir unmittelbar in einer bedrohlichen Situation sind, wohingegen mit Angst meist länger dauernde Befürchtungen beschrieben werden. Furcht ist also die akute Reaktion: Ich erschrecke mich vor der großen Spinne. Mit Angst ist zum Beispiel die Befürchtung gemeint, es könnte was Schlimmes passieren: Ich will nicht in den Keller, da ist es dunkel und unheimlich. Eine sehr häufige Form der Angsterkrankungen sind beispielsweise Phobien, bei denen es um ganz bestimmte Auslöser wie etwa Hunde, Prüfungen oder Flüge geht. Andere Angsterkrankungen sind zum Beispiel die generalisierte Angststörung, die Panikstörung oder die soziale Phobie.

Romanos: Immer aus einem Wechselspiel aus Anlage und Lernerfahrung: Manche lernen Angst leichter als andere, aber ohne Lernerfahrung geht's nicht. Ein Kind, das noch nie von Halloween gehört hat, hat nicht einfach Angst davor. Vielleicht war das Kind aber mal bei einem Faschingsumzug, wo es Angst vor Personen bekommen hat, die maskiert waren. Das heißt, es gab konkrete Auslöser oder Situationen, die für das Kind ängstigend waren.
Romanos: Es kann viele Gründe geben, warum ein Kind nicht bei Halloween mitmachen möchte. Vielleicht hat es Angst, bewertet zu werden, wenn es an einer Tür klingelt – dass die Leute unfreundlich sind oder sagen, "was soll das, habt Ihr keine Süßigkeiten daheim?" Das wären dann soziale Ängste, das ginge in Richtung soziale Phobie.
Romanos: Angst hat verschiedene Ebenen. Ein Kind mit Hundephobie sieht von weitem einen Hund und kommt zu der Bewertung: Der Hund könnte gefährlich sein. Dann kommt der Gedanke, der beißt mich bestimmt, vielleicht beißt er mich tot. Und das führt zur Emotion Angst – ich trau' mich nicht, weiterzulaufen, gekoppelt mit dem Gedanken, da könnte was Schlimmes passieren. Die kognitive und die emotionale Ebene der Angst werden begleitet von Reaktionen des Körpers.
Romanos: Wir schwitzen, der Herzschlag erhöht sich, wir bekommen Stuhlgang – in der Entwicklungsgeschichte war es wichtig, sich zu erleichtern, damit man gut flüchten konnte. Viele erröten, ihnen wird heiß, eventuell schwindelig.
Romanos: Grundsätzlich ja. Angst ist ein Überlebensmechanismus. Wenn ich etwas Gefährliches erlebe, lerne ich Angst sehr schnell – um gefährliche Situationen zu vermeiden. Es kann, gerade für Kinder, lebenswichtig sein, vor den richtigen Sachen Angst zu entwickeln. Da ist die Angst nicht pathologisch, sondern hat einen bestimmten Zweck. Zudem treten in der Entwicklung immer wieder Ängste auf. Kleine Kinder haben Angst, wenn die Mutter aus dem Zimmer geht; viele Kinder haben Angst vorm Schlafen im Dunkeln oder vor Einbrechern. Dazu kommen soziale Ängste, Leistungsängste in der Schule. Jeder Entwicklungsschritt bringt neue Aufgaben mit sich, die Ängste hervorrufen können. Zu einer gesunden Entwicklung gehört, dass Kinder es schaffen, diese zu überwinden und zu erleben, dass sie es können und nicht scheitern. Ängste sind wichtig: Jedes Kind muss auch Ängste haben, um wachsen zu können.
Romanos: Viele Erwachsene neigen in so einem Augenblick dazu, zu sagen: "Ach, da musst du keine Angst haben, da ist doch nichts." Das bedeutet aber für das Kind: Deine Emotion ist nicht valide. Die Angst, die du jetzt hast, ist falsch, du darfst sie nicht haben. Es ist aber völlig ok, dass ein Kind mal Angst hat.
Romanos: Es ist wichtig, das Kind in dem Augenblick zu validieren, das heißt, anzuerkennen, dass es Angst hat. Man könnte so etwas sagen wie, "Es ist in Ordnung, Angst zu haben, und trotzdem schaffst du das. Es wird nichts passieren, ich glaube fest an dich. Auf dem Spielplatz zum Beispiel, da hast Du vor der großen Rutsche auch Angst gehabt, und dann hast Du Dich getraut. Weißt Du noch, wie stolz Du dann warst?" Für das Kind ist es wichtig, in dem Augenblick ernst genommen zu werden.
Romanos: Ja, das gibt es. Wenn das Ereignis dramatisch oder für das Kind bedrohlich genug ist, kann das eine psychische Reaktion, eine Angsterkrankung, auslösen. Wenn es ein sehr traumatisches Ereignis ist, kann daraus auch eine posttraumatische Belastungsstörung entstehen. Einzelne Lernerfahrungen reichen, wenn die Intensität hoch genug. Ich erinnere mich an einen Jungen, der mit etwa drei Jahren in einen Collie gerannt ist – beide kamen um eine Ecke und sind dann mit Gesicht und Schnauze zusammengestoßen. Der Junge hatte danach jahrelang Ängste vor Hunden.
Romanos: Wir alle haben unterschiedliche Ausstattung, Mindset und Veranlagung. Zudem sind die familiären Modelle wichtig. Wir wissen beispielsweise, dass Kinder, bei denen ein Elternteil an einer Angsterkrankung leidet, ein fast doppelt so hohes Risiko haben, auch eine Angsterkrankung zu bekommen. Die Lernerfahrungen sind ebenso wichtig: Wenn ich in einem Haushalt aufwachse, in dem der Vater oder die Mutter eine Angsterkrankung hat, werde ich vieles als bedrohlicher interpretieren, weil ich am Modell lerne und sehe, wie zum Beispiel meine Mutter vor vielen Dingen Angst hat.
Romanos: Es gibt Eltern, die von ihren Kindern alles fernhalten wollen, was schlimm ist; die der Meinung sind, eine gute Kindheit sei eine, die völlig frei von Konflikten abläuft. Eine Schutzglocke um Kinder aufzubauen, ist aber nicht gut. Sie müssen auch Erfahrungen sammeln und lernen, mit ihnen klarzukommen. Eine sehr starke Schonhaltung kann Ängste befördern, weil das Verhalten der Eltern für das Kind signalisiert, dass diese oder jene Situation wirklich gefährlich ist. Vermeidungsverhalten verstärkt aber Ängste und kann deren Chronifizierung befördern. In der Folge wird es für die Kinder immer schwieriger, sich zu überwinden und etwas zu probieren.