"Ich bin erleichtert, dass der Mann endlich im Gefängnis sitzt", sagt Chan-jo Jun. Gleichzeitig ist dem Würzburger Anwalt der Schrecken über die Nachricht anzumerken, dass der jetzt in Berlin inhaftierte Alexander M. nicht nur seit drei Jahren Dutzende Politiker, Anwälte und Künstler in rechtsextremen Mails und Faxen terrorisiert haben soll, sondern mutmaßlich auch derjenige ist, der 2017 der Familie Jun mehrfach am Telefon mit dem Tod gedroht hat.
Damals verteidigte Jun vor dem Würzburger Landgericht den syrischen Flüchtling Anas Modamani in einem Verfahren gegen den Internet-Riesen Facebook. Modamani wollte erreichen, dass das soziale Netzwerk Fotobeiträge, die ihn völlig grundlos als Verbrecher darstellten, dauerhaft löschen muss. Am ersten Prozesstag im Februar 2017 gingen in der Kanzlei Jun drei Anrufe ein, in denen ein Unbekannter den Anwalt nicht nur rassistisch beleidigte, sondern ihm auch den Tod androhte, falls er das Mandat nicht niederlege. Große Sorge bereitete Jun, dass der Mann auch die Privatadresse der Familie kannte und seine Kinder in den Telefonaten erwähnte. Schließlich folgte noch ein "Deutschland den Deutschen. Sieg Heil."
Schnell ermittelte die Kriminalpolizei die Telefonnummer, von der die Anrufe getätigt wurden, sowie die Adresse des mutmaßlichen Täters in einem Mehrfamilienhaus in Berlin. Der Telefonanschluss lief auf einen (nicht existenten) Namen, der Verdacht richtete sich gleichwohl wenig später gegen den polizeibekannten und mehrfach vorbestraften Alexander M..
Fehlende Bestätigung des Telefonanbieters verhinderten Verfahren
Nach einer "Gefährder-Ansprache" offensichtlich gewarnt, förderte eine Hausdurchsuchung bei dem Beschuldigten außer legalen Waffen wie einer Machete und einer Gasdruckpistole sowie vermeintlich gelöschten kinderpornografischen Dateien am Computer, aber nichts Belastendes.
Gleichwohl sah die Staatsanwaltschaft Würzburg die Beweislage als erdrückend genug, um im Februar 2018 Anklage wegen Nötigung und Bedrohung gegen Alexander M. zu erheben. Recherchen dieser Redaktion zufolge lehnte das Amtsgericht Würzburg ein Verfahren jedoch ab. Der Tatverdacht gegen den Beschuldigten habe sich nicht erhärten lassen, hieß es, weil der Telefonanbieter sich außerstande sah, den Zusammenhang zwischen dem Telefonanschluss, von dem die Drohungen ausgingen, und der Wohnung von M. den Ermittlern schriftlich zu bestätigen. Die entsprechenden Daten seien gelöscht worden, teilte das Unternehmen mit. Eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Nichtzulassung der Anklage wies das Landgericht im Juli 2018 ab.
Kurz nach der Würzburger Entscheidung folgt ein erstes "NSU 2.0"-Fax
Alexander M. nicht den Prozess zu machen, "war ein großer Fehler", sagt Chan-jo Jun rückblickend. Der Anwalt vermutet, der mutmaßliche Drohanrufer habe sich durch die Würzburger Richter in seinem Gefühl, ihm könne so leicht niemand etwas nachweisen, bestätigt gefühlt. Jedenfalls soll der 53-Jährige, so die aktuellen Vorwürfe der Staatsanwaltschaft in Frankfurt, im August 2018, nur wenige Tage nach der Entscheidung in Würzburg, angefangen haben, ein erstes Fax mit Todesdrohungen und der Unterschrift "NSU 2.0" an die hessische Terror-Opfer-Anwältin Seda Basay-Yildiz geschickt haben.
Mehr als 100 weitere Drohbriefe folgten, unter anderem an die heutige Linken-Vorsitzende Janine Wissler und die Kabarettistin Idil Baydar. Weil der Täter nicht nur genaue Adressen, sondern auch Details der privaten Verhältnisse seiner Opfer kannte, fürchten viele Betroffene, er könnte Helfer in der rechtsextremen Szene gehabt haben.
Hätte ein konsequenteres Vorgehen der Justiz in Würzburg womöglich also den NSU 2.0 verhindern können? Chan-jo Jun hält sich mit einer Bewertung zurück. Für den Anwalt hatten die Drohanrufe jedenfalls Konsequenzen. Mit Blick auf seine Familie führte er das Verfahren von Anas Modamani gegen Facebook 2017 nach der Niederlage in der ersten Instanz nicht weiter.