
Zu den 80. Jahrestagen des Gedenkens in diesem Jahr gehört auch die Befreiung des KZ Bergen-Belsen am 15. April. Das ist für die Würzburger Erinnerungskultur von Bedeutung, weil dort 14 jüdische Menschen aus Würzburg am Ende ihrer Verfolgungszeit landeten.
Zwei Personen gelangten 1944/45 mit Rücktransporten aus Lagern im Osten dorthin, wo beide starben. Die anderen zwölf waren schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus Würzburg in die Niederlande geflohen, die dann 1940 von Deutschland besetzt wurden. Effizienter und schneller als in Deutschland setzten die Besatzer hier die NS-Verfolgungspolitik gegen die jüdische Bevölkerung durch. Von den gut hundert Emigrierten aus Würzburg gelang immerhin etwa der Hälfte, weiter zu fliehen, während die übrigen meist deportiert und ermordet wurden: in Sobibor (18), Auschwitz (mindestens 10), Bergen- Belsen und auf von dort ausgehenden Transporten (8) oder an weiteren Orten. Mindestens drei Menschen begingen in den Niederlanden Suizid, vier bis sieben überlebten im Versteck.
Ab 1943/44 fuhren die Deportationszüge ins KZ Bergen-Belsen
Die Frankenthals waren in Würzburg eine renommierte und gut vernetzte Weinhändler-Familie. Max und sein Bruder Moritz führten das Familiengeschäft an der Schönleinstraße. Nach den ersten Jahren der NS-Repressionen nutzten sie ihre Kontakte in die Niederlande und flohen im September 1938 als Großfamilie. Max älterem Sohn Werner gelang sehr bald die Emigration in die USA, während der jüngere Hans bei den Eltern blieb. Aufgrund ihrer Beziehungen wurde die Familie erst im Oktober 1943 von den Deportationen erfasst. Wie fast alle Jüdinnen und Juden in den Niederlanden wurden sie zunächst im Sammellager Westerbork interniert. Von dort fuhren die Züge in die Vernichtungslager – und seit 1943/1944 in das KZ Bergen-Belsen.


Klara Frankenthal, die Frau von Max, sowie seine Brüder Ludwig und Moritz wurden von Westerbork nach Auschwitz geschickt, was nur Klara nach einem Todesmarsch überlebte. Max, sein Sohn Hans und sein Bruder Eugen kamen nach Bergen-Belsen. Dieses Lager in der Lüneburger Heide war seit 1940 als Kriegsgefangenenlager gebaut worden. Daneben betrieb die SS dort seit 1943 das "Austauschlager" für jüdische Häftlinge, die für einen Tausch gegen im Ausland festgehaltene Deutsche vorgesehen waren. Bis Ende 1944 galten hier etwas bessere Lebensbedingungen. So konnte Raci Neubauer selbst für ihren kranken Sohn Jehoshua sorgen, der im September 1944 mit 19 Jahren an Typhus starb. In den letzten Monaten des Lagers brachen wegen der starken Überbelegung Versorgung und Hygiene komplett zusammen, Epidemien grassierten und die Toten blieben unbestattet liegen.
Gefälschte Dokumente für den Widerstand
Auch die achtköpfige, orthodoxe Familie von Raci und Jakob Neubauer hatte in Würzburg gelebt. Jakob war ein angesehener rabbinischer Gelehrter und unterrichtete als Seminarrabbiner an der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt. Er nutzte schon im September 1933 seine Kontakte nach Amsterdam, um dort eine leitende Lehrtätigkeit im aschkenasischen Rabbinerseminar anzutreten. Drei seiner Kinder konnten von dort nach Palästina bzw. Argentinien fliehen. Hanna nutzte ihre Ausbildung als Grafikerin zum Fälschen von Dokumenten für den Widerstand. Als sie deportiert werden sollte, sprang sie vom Lastwagen und versteckte sich. Auch ihre Schwester Miriam ging mit ihrer Hilfe ins Versteck. Beide überlebten und emigrierten nach dem Krieg nach Palästina.

Die Eltern Jakob und Raci und der jüngste Sohn Jehoshua wurden nach Westerbork und von dort nach Bergen-Belsen deportiert, wo auch Jakob im März 1945 starb. Drei weiteren Menschen aus Würzburg erging es ebenso. Die Brüder Jakob und Simon, Söhne des orthodoxen Religionslehrers Lippmann Bär Gutmann in Würzburg, wurden dagegen am 15. April 1945 in Bergen-Belsen befreit.

Für andere Gefangene endete ihr Martyrium jedoch noch nicht. Denn wenige Tage vor der Befreiung mussten sie mit etwa 6700 weiteren Häftlingen des Austauschlagers drei Züge besteigen. Nur der zweite Zug mit ungarischen Häftlingen kam am Ziel in Theresienstadt an. Der erste wurde nach einer Woche bei Farsleben in der Nähe von Magdeburg befreit. Der dritte Zug mit etwa 2 400 Häftlingen startete am 10. April, kreuzte fünf Tage später bei Lauenburg die Elbe und fuhr von dort in stockendem Tempo südostwärts, einmal quer durch Berlin und weiter bis Senftenberg südwestlich von Cottbus und von dort wieder Richtung Westen, wo er am 23. April 1945 von der russischen Armee bei dem kleinen Ort Tröbitz befreit wurde.
520 Menschen überlebten den "lost transport" nicht
Die Menschen an Bord hatten kaum Wasser und Nahrung bekommen, viele von ihnen waren stark entkräftet oder litten an Fleck-Typhus. Die Toten begruben sie unterwegs notdürftig an der Strecke. Zu ihnen gehörte Max Frankenthal, der mit seinem Sohn Hans in dem Zug war und schon wenige Tage nach dem Start in der Nähe von Uelzen starb. Der Apotheker und Chemiker Julius Freudenberger starb einen Monat nach der Befreiung in Tröbitz. Er hatte schon Ende 1933 seine Hirsch-Apotheke in Würzburg verkauft und war nach Frankfurt und später in die Niederlande geflohen. Im Januar 1944 wurde er mit seiner Frau Ella nach Bergen-Belsen deportiert, wo sie Anfang April 1945 starb.
Die Ortsverwaltungen im Raum Tröbitz und Schilda, die Bewohner und die russischen Besatzer bemühten sich zwar, waren jedoch mit der Versorgung von 2000, meist kranker Menschen überfordert. Ein Lazarett und Grabstellen für die vielen Toten wurden angelegt. Die ehemaligen Häftlinge halfen mit, soweit sie dies gesundheitlich konnten. Erst nach mehrwöchiger Quarantäne und über 300 weiteren Todesfällen kam die Epidemie zum Stillstand. Da waren zwei gesunde Personen auf Fahrrädern bereits in Richtung der Niederlande unterwegs und hatten die Nachricht von dem "lost transport" zu den Amerikanern gebracht. Die fuhren ab Mitte Juni die befreiten Menschen zurück in die Niederlande.

Insgesamt etwa 520 Menschen haben den "lost transport" nicht überlebt. Zu den Überlebenden zählten die Würzburger Hans Frankenthal und Raci Neubauer. Auch Werner Weinberg und seine Frau Lisl, die in Würzburg ab 1934 die Israelitische Lehrerbildungsanstalt besucht hatten, gehörten dazu. Weinberg und Frankenthal, später John Franklin, haben über ihre Geschichte berichtet. Nach kurzer Zeit in den Niederlanden, wo sie überlebende Angehörige wiederfanden, verließen sie alle Europa in Richtung der USA. Raci Neubauer zog nach Argentinien und später nach Israel.
Dr. Rotraud Ries ist Historikerin und Expertin für deutsch-jüdische Geschichte. Bis 2022 leitete sie das Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken und hatte maßgeblichen Anteil am Projekt „DenkOrt Deportationen“.