
Zum ersten Mal seit der Corona-Pandemie war der große Hörsaal der Uni Würzburg, der Audimax am Sanderring, wieder nahezu vollständig besetzt. Und das lag nicht nur an sinkenden Inzidenzen, sondern vor allem am Hauptredner, Sigmar Gabriel. Der ehemalige SPD-Vorsitzende, Bundesminister und Vizekanzler diskutierte über die aktuellen wirtschafts- und geopolitischen Herausforderungen mit den Würzburger Professoren Peter Bofinger (Volkswirtschaft) und Björn Alpermann (Sinologie/zeitgenössische China-Studien) sowie der IHK-Vizepräsidentin Caroline Trips.
Sigmar Gabriel brachte es dann auch gleich auf den Punkt. Wir würden in einer epochalen Zeitenwende leben, die uns alle betreffe. 70 Jahre lang habe in der Weltpolitik das Prinzip der Geoökonomie geherrscht. Getragen von der Überzeugung, je mehr wirtschaftliche Integration bestehe, desto sicherer sei die Welt. Selbst in den Hochzeiten des kalten Krieges habe es Handel mit der Sowjetunion gegeben. Und Europa sei vor allem wegen seines funktionierenden Binnenmarktes zum Garanten für Frieden in Europa geworden.
Sigmar Gabriel sprach vom Ende der Nachkriegsordnung
"Das alles gilt nicht mehr", sagte Gabriel. Und das nicht erst, seit Russlands Präsident Wladimir Putin entgegen aller wirtschaftlicher Vernunft die Ukraine angegriffen habe, um geostrategische Ziele zu verfolgen. Auch die für den Brexit verantwortlichen Politikerinnen und Politiker hätten genau gewusst, dass der Ausstieg Großbritanniens aus der EU wirtschaftliche Nachteile bringe. Und fast die Hälfte der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner hätte Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl 2020 erneut gewählt.

Laut Gabriel erleben wir derzeit nicht mehr und nicht weniger als das Ende der Nachkriegsordnung. Die politischen und wirtschaftlichen Achsen hätten sich vom Atlantik in den Indo-Pazifik verschoben. Mit Indien, China und Teilen Afrikas seien ehemalige Entwicklungsländer als neue Player hinzugekommen. Russland wolle deshalb jetzt eine Rolle als europäische Großmacht spielen - Putin orientiere sich dabei aber weniger an der Sowjetunion als vielmehr am alten Zarenreich, so Gabriel. Die USA würden sich hingegen auf ihren Konflikt mit China konzentrieren: "Niemand kann wissen, ob die USA nach der nächsten Präsidentschaftswahl noch an der Seite Europas stehen."
Gabriel: "Wir müssen uns wieder mehr für die Welt um uns herum interessieren"
Und auch wenn manche Sätze Gabriels wie "So gefährlich war die Welt schon lange nicht mehr" und "Wir dürfen nicht die letzten Vegetarier unter lauter Fleischfressern werden" bedrohlich wirkten, machte der Vorsitzende der Atlantik-Brücke auch Mut. Die Staatengemeinschaft müsse eine neue Balance finden zwischen Wettbewerb, harter Konfrontation und Kooperation. Dass dies gelingen könne, habe die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt. Man habe Deutschland in die Nachkriegsinstitutionen integriert. Dies könne auch jetzt wieder gelingen, "aber wir müssen uns wieder mehr für die Welt um uns herum interessieren".
Er finde es bezeichnend, so Gabriel, dass die drei Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2021 stundenlang von Top-Journalistinnen und -journalisten zu innenpolitischen Themen in den TV-Triellen befragt worden seien, aber gerade einmal zwölf Minuten zur Außenpolitik. Und da sei es ausschließlich um Afghanistan gegangen. "Das können wir uns nicht mehr leisten, denn die Welt ist wesentlich unbequemer geworden, als wir sie uns in den letzten Jahren gemacht haben", so Gabriel.
Wir befinden uns in einem Wettbewerb der politischen Systeme
In der von Stephanie Böhm (Akademie Frankenwarte) moderierten Diskussion berichtete Caroline Trips (TRIPS Group, IHK), dass die unterfränkische Wirtschaft überraschend gut durch die Corona-Pandemie gekommen sei, allerdings durch den Ukraine-Krieg gleich in die nächste Krise schlittere. Doch die Wirtschaft würde auch das gut überstehen, wenn ihr die Politik verlässliche Rahmenbedingungen gebe. Dazu gehörten die Energiesicherheit auch im nächsten Herbst sowie mehr Freizügigkeit und weniger Bürokratie in Bezug auf ausländische Arbeitskräfte. Denn inzwischen sei es leichter, Fachkräfte aus Ländern außerhalb der EU anzuwerben, als innerhalb des Binnenmarktes.

Der Würzburger Sinologe Björn Alpermann sprach sich bei der Diskussion für einen technologischen Wettbewerb und wirtschaftliche Kooperationen mit China aus. Allerdings warnte er, dass es auch einen Wettbewerb der politischen Systeme gebe. China brüste sich etwa damit, den Klimawandel mit seinem autoritären System viel besser zu meistern, als der Westen. Dabei sei auch Korruption Teil des Systems. Alpermann bestätigte, dass wir in Deutschland viel zu wenig über China wüssten. Drei Lehrstühle an der Universität Würzburg und deren Forschungsprojekte würden hier aber gegensteuern.
Der europäische Binnenmarkt gebe der EU die wirtschaftliche Kraft, international zu bestehen, sagte Peter Bofinger. Unverständlich sei für ihn nur, warum Deutschland sich so stark von Energie aus Russland habe abhängig machen können. Die Hoffnung, Russland mit ökonomischen Verflechtungen einzubinden, sei gescheitert, sagte Sigmar Gabriel. Das Land sei zum "Energielieferanten für Europa" geworden, Putin aber strebe den Status als europäische Großmacht an.
Ne, echt jetzt?
Experte.
Vielleicht sollte Sigmar Gabriel einfach mal die Klappe halten.