Die Europäische Union ist tief verunsichert. Die Krisen des vergangenen Jahrzehnts – angefangen beim Euro über die Flüchtlingsfrage bis zum Brexit – haben die EU auf eine harte Probe gestellt. Die Würzburger Europaexpertin Gisela Müller-Brandeck-Bocquet blickt deshalb mit Sorge auf die Europawahl am 26. Mai. Im Interview erklärt sie, warum eine engere Zusammenarbeit in Europa auch an der deutschen Kleinkariertheit scheitere.
Frage: Frau Müller-Brandeck-Bocquet, wird es 2025 die Vereinigten Staaten von Europa geben? Martin Schulz hat das nach der Bundestagswahl gefordert.
Gisela Müller-Brandeck-Bocquet: Nein, das wird es nicht. Von den Vereinigten Staaten von Europa – als Bundesstaat à la USA – sind wir noch weit entfernt. Wir sehen eher das Gegenteil: In den letzten Jahren haben die nationalen Regierungen gegenüber der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament wieder eine zunehmend wichtigere Rolle eingenommen. Die EU ist aus politikwissenschaftlicher Sicht eben ein Gebilde der ganz eigenen Art, wofür es weltweit auch kein Vorbild gibt.
War das dann ein naiver Vorstoß von Martin Schulz?
Müller-Brandeck-Bocquet: Naiv nicht, denn die Europäische Union braucht für ihre Zukunftsgestaltung Visionen. Und langfristig hätte ein Bundesstaat durchaus Vorteile: Er würde mehr Solidarität und Abstimmung im Inneren ermöglichen, weil ein Bundesstaat nach eigenem Ermessen in allen Politikfeldern tätig werden darf. Auch könnte ein Bundesstaat auf dem internationalen Parkett viel geschlossener auftreten. Das ist aber nicht in Sicht. Momentan müssen die 27 Mitgliedsstaaten nach den schwierigen Krisenjahren und dem desaströsen Brexit-Prozess erstmal den Status quo retten.
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In der Außen- und Sicherheitspolitik wurde die Zusammenarbeit jüngst deutlich verstärkt. Ist das in der aktuellen Situation dann der richtige Weg?
Müller-Brandeck-Bocquet: Es ist gut, dass es die EU in den letzten drei Jahren – trotz des andauernden Krankredens von innen und außen – geschafft hat, viele ihrer Defizite anzupacken. Doch es muss das unsägliche Schwarze-Peter-Spiel aufhören, das so geht: Wenn etwas funktioniert, waren es die Mitgliedsstaaten. Wenn etwas nicht funktioniert, ist die EU schuld. Das hat zu Misstrauen und letztliche in eine Akzeptanzkrise der EU geführt. Dabei ist klar: In dieser globalisierten Welt haben die einzelnen Mitgliedsstaaten alleine – auch die großen wie Deutschland – null Chance mitzugestalten.
Und trotzdem tritt die deutsche Regierung in der EU häufig auf die Bremse.
Müller-Brandeck-Bocquet: Leider, denn die Vorschläge des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron zur Zukunft der EU beispielsweise waren ein wirklich großer Wurf. Und weder Angela Merkel noch die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer haben beherzt darauf geantwortet. Wir können aber nicht die Franzosen die Ideen entwickeln lassen und später nur daran herumkritteln. Mit dieser Kleinkariertheit – aus Angst, alle wollen angeblich nur an unser Geld – werden wir unserer führenden Rolle in der EU nicht gerecht.
Wenn das Zeitfenster für Reformen, das Macron geöffnet hat, verstrichen ist: Mit welchem Gefühl blicken Sie auf die Europawahlen Ende Mai?
Müller-Brandeck-Bocquet: Mich besorgt die Stärke anti-europäischer Kräfte. Ich hoffe, dass sich die steigenden Zustimmungswerte zur EU in den Eurobarometer-Umfragen auch im Wahlergebnis und in der Wahlbeteiligung niederschlagen. Denn die Europawahlen sind von herausragender Bedeutung. Eine hohe Beteiligung würde zeigen, dass wir die Bedeutung der EU als unsere Lebensversicherung verstanden haben.
Trotzdem findet der Wahlkampf in der öffentlichen Debatte kaum statt.
Müller-Brandeck-Bocquet: Es wird insgesamt viel zu wenig über die Bedeutung der EU gesprochen. Auch deshalb ist die Wahlbeteiligung seit der ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 kontinuierlich gesunken. Das stellt nicht nur den Regierungen, sondern auch den Bürgern ein wirklich schlechtes Zeugnis aus. Was ist aus der politischen Verantwortung des Einzelnen geworden?
Emmanuel Macron hat es in seiner Rede an der Sorbonne so formuliert: "Die Gründerväter haben Europa ohne die Bevölkerung erschaffen. Dieses Kapitel zerschellte am demokratischen Zweifel in Europa."
Müller-Brandeck-Bocquet: Das, was Macron hier sehr vornehm formuliert hat, ist eigentlich eine herbe Kritik an den Regierungen. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Vertrag von Maastricht Anfang der 90er-Jahre haben sie es versäumt, ihren Völkern Europa erneut zu erklären. Die positiv besetzte Grundüberzeugung der frühen Jahre "Die da oben werden das schon machen" funktioniert heute aber nicht mehr. Dafür ist das Misstrauen gegenüber den Eliten und der repräsentativen Demokratie zu groß.
Ist bei den Bürgern das Bewusstsein verloren gegangen, vor welchem Hintergrund Europa entstanden ist?
Müller-Brandeck-Bocquet: Ja, da sprechen Sie den zentralen Punkt an. Das vereinte Europa ist entstanden, weil es in der Bevölkerung einen Konsens gab, dass nur Zusammenarbeit uns vor den Desastern weiterer Kriege bewahrt. Die Bürger waren überzeugt, die Europäische Einheit schaffe Frieden und Wohlstand. Das hat sie auch getan. Doch dieses Bewusstsein ist – mit der Entfernung zu den Schrecken der 30er und 40er Jahre – verloren gegangen. Heute wählen die Bürger wieder rechtspopulistisches Gedankengut – auch weil sich die EU seit zehn Jahren in einem ununterbrochenen Krisenmodus befindet. Das hat die Union tief verunsichert und das Selbstvertrauen auf eine harte Probe gestellt.
Welche Folgen hätte es, wenn die nationalistischen Kräfte als Sieger aus der Europawahl hervorgehen?
Müller-Brandeck-Bocquet: Es wäre fürchterlich. Und eine Schande für alle EU-Bürger.
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