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Würzburg
Erziehungsheim in Würzburg: Warum die Nachfrage nach Plätzen enorm steigt
Was muss passieren, damit ein Kind für Jahre aus der Familie genommen wird? Einblicke in das therapeutische Heim St. Josef in Würzburg und das Leben seiner Bewohner.
Immer mehr Kinder werden wegen extremer Verhaltensauffälligkeiten in Erziehungsheimen betreut. Ein Würzburger Heimleiter schätzt, dass sich die Lage durch die Pandemie noch weiter verschärft.
Foto: SymbolJens Kalaene, dpa | Immer mehr Kinder werden wegen extremer Verhaltensauffälligkeiten in Erziehungsheimen betreut. Ein Würzburger Heimleiter schätzt, dass sich die Lage durch die Pandemie noch weiter verschärft.
Gisela Rauch
 |  aktualisiert: 08.02.2024 15:51 Uhr

Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland brauchen erzieherische Hilfen. Ihre Zahl hat in den vergangenen beiden Berichtsjahren die Million überschritten. Darunter sind auch immer mehr Kinder, die wegen extremer Verhaltensauffälligkeiten über Jahre in Erziehungsheimen betreut werden müssen. Nach Einschätzung von Norbert Beck, dem Leiter des therapeutischen Heims St. Josef in Würzburg, wird die Pandemie die Situation noch verschärfen. Die Nachfrage nach Plätzen in Erziehungsheimen werde aufgrund von krisenbedingten Entwicklungen in dysfunktionalen Familien nochmals steigen. Dabei übersteigt etwa in Würzburg die Nachfrage jetzt schon das Angebot bei weitem.

56 Plätze für Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 18 Jahren hat das Würzburger Heim St. Josef. Ginge es nur nach Anfragen, müsste die Einrichtung ihre Plätze deutlich aufstocken. "Für jedes Kind, das wir aufnehmen, weisen wir vier ab“, sagt Heimleiter Beck. Maik (Name des Kindes geändert) aber konnte im vergangenen Jahr einziehen; er war ein dringender Fall. Warum? Weil der Junge, gerade mal neun Jahre alt, für seine Familie eine Gefahr bedeutet hat.

Jugendamt: Noch nie eine Mutter gesehen, deren Bein so blau geschlagen war

Maik, Sohn einer alleinerziehenden Mutter und eines abwesenden Vaters, kennt Gewalt seit seiner Kleinkindzeit. Nach Becks Schilderung hat er etliche Partnerschaften der Mutter miterlebt. Und die sei oft mit Männern zusammengewesen, die schlugen und tranken. Als Maik neun Jahre alt wurde, habe seine Mutter bereits aufgegeben, ihren Sohn zu erziehen. Sagte sie ihm, er solle aufhören zu zocken, beschimpfte er sie und knallte ihr die Zimmertür ins Gesicht. Immer öfter schlug der Junge laut Beck auf seine Mutter ein oder trat nach ihr. "Ich habe noch nie eine Mutter gesehen, deren Bein so blau geschlagen war“, hatte eine Mitarbeiterin des Jugendamts berichtet. Und Maik griff auch seine kleine Schwester an.

Heimleiter Norbert Beck in der Holzwerkstatt des therapeutischen Heims St. Josef im Würzburger Stadtteil Zellerau. Beck ist auch Lehrbeauftragter für angewandte Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt.
Foto: Gisela Rauch | Heimleiter Norbert Beck in der Holzwerkstatt des therapeutischen Heims St. Josef im Würzburger Stadtteil Zellerau.

Psychiater sehen bei Maik eine "hyperkinetische Störung": Der Junge könne – durchaus erziehungsbedingt – Frustrationen nicht aushalten und seine Impulse nicht kontrollieren. Damit ist er im Heim St. Joseph nicht allein. Zwei Drittel der Bewohner sind Jungen; und bei vielen von ihnen steht ebenfalls "hyperkinetisches Syndrom" im Aufnahmebogen. Nur wenige Jungen zeigen Angstsymptomatiken; bei den Mädchen dominieren depressive Störungen, Ess-Störungen und selbstverletzendes Verhalten. Rund 80 Prozent der Sankt-Josephs-Heimbewohner müssen täglich Medikamente nehmen. Früher sei das überwiegend Ritalin gewesen, heute sei die Medikation differenzierter, sagt Beck.

Kinder, deren Leben zuvor kaum Struktur hatte, leben jetzt im strukturierten Tagesablauf

Im Heim soll Maik, sollen auch die anderen Bewohner, sozialkonformes Verhalten lernen. Gruppentherapien und Einzeltherapien sind grundsätzlich Pflicht, auch wenn unter Corona-Bedingungen manche Therapieangebote zeitweise zurückgefahren werden mussten. Beck sagt:  "Wichtig ist vor allem der strukturierte Tagesablauf." Kinder, deren Leben zuvor kaum Struktur kannte und für die gemeinsame Mahlzeiten, gemeinsame Spiele und gewaltfreie Diskussionen neu sind, haben jetzt einen eng gestrickten Tagesplan.

Mit klaren Umgangsregeln: "Wir schlagen uns nicht! (Und auch nicht treten)" steht etwa im "Kodex" der "roten" Heimgruppe. "Wäschekörbe und anderes Zeug sind keine Wurfgeschosse", haben die Jugendlichen sich auf ein Plakat notiert; genauso wie "Wir schikanieren nicht!“ und  "Wir wünschen niemandem den Tod!".

Kontaktarmut als Folge der Pandemie haben die Jugendlichen im Heim St. Josef weniger gespürt als ihre Altersgenossen außerhalb. 
Foto: Gisela Rauch | Kontaktarmut als Folge der Pandemie haben die Jugendlichen im Heim St. Josef weniger gespürt als ihre Altersgenossen außerhalb. 

Anders als in vielen Herkunftsfamilien wird im Heim regelkonformes Verhalten belohnt und der Regelverstoß  bestraft. "Ich habe in dieser Woche echt gute Bewertungen bekommen“, erzählt der 15-jährige Patrick (Name geändert) – und man hört ihm an, wie stolz er darauf ist. Um sicherzustellen, dass die  verspätete Erziehung der auffälligen Jugendlichen eine Chance auf Erfolg hat, beschäftigt das therapeutische Heim zahlreiche Psychologen, Erzieher, Heilpädagogen und eine heimeigene Förderschule für emotionale Entwicklung. Mit rund 70 Mitarbeitern auf 56 Vollzeitstellen handelt es sich damit - bei 56 Kindern - um eine Eins-zu-Eins-Betreuung.

In den Familien mancher Kinder gibt es nicht einmal einen Esstisch

Zwei Brötchen und ein Bier auf der Couch vor dem Fernseher: So sieht das normale Abendessen bei Patrick zu Hause aus. "Die Familie hat nicht einmal einen Esstisch“, hatte ein Mitarbeiter des Jugendamts berichtet. Ob der Junge überhaupt Essen bekam, ob er Hausaufgaben machte oder nicht, ob er in die Schule ging – das hat Patricks Mutter nicht gekümmert. Mit der Folge, dass Patrick vollkommen vernachlässigt aufwuchs, nicht zur Schule ging, für sich keine Perspektive sah.

Wenn Beck von Patricks Mutter spricht, schildert er sie allerdings nicht als Versagerin, sondern als Opfer: "40 bis 50 Prozent der Eltern unserer Jugendlichen haben selbst massive psychische Probleme, haben Süchte, Ängste, Depressionen." Laut den Krankenkassen nimmt die Zahl der psychisch kranken Erwachsenen seit Jahren deutlich zu – mit der Folge, dass entsprechende Problematiken vermehrt an deren Kinder weitergegeben werden.

Nach durchschnittlich zwei Jahren wird die Rückführung in die Familie angestrebt

"Mir geht es hier gut im Heim“, sagt Patrick. Kontaktarmut als eine von vielen Auswirkungen der Corona-Krise hat der 15-Jährige in St. Josef möglicherweise weniger deutlich gespürt als viele Gleichaltrige: Immer bestand der intensive Kontakt zu den sechs anderen Mitgliedern seiner Wohngruppe. Und auch die interne Schule des Heims konnte Patrick sogar im Lockdown weiter besuchen, während jene Mitbewohner, die auf externe Schulen gehen, im Homeschooling lernen mussten.

Patrick ist jetzt in einem Alter, in dem er auf einen Schulabschluss hinarbeitet und seine Betreuer ihn auf dem Weg in die Selbstständigkeit begleiten wollen. Beck zufolge läuft das in seinem und ähnlichen Fällen vermutlich auf das Leben in einer betreuten Wohngruppe und eine Berufsförderungsmaßnahme hinaus.

Bei jüngeren Kindern, wie etwa Maik, ist nach einer durchschnittlichen Aufenthaltszeit von zwei Jahren im Heim die Rückführung in die Familie das Ziel.  "Das ist bei 75 Prozent unserer Kinder so", sagt Beck. Voraussetzung sei, dass Maik gelernt habe, seine Impulse zu kontrollieren. Voraussetzung sei aber auch, dass zwischenzeitlich seine Mutter, ebenfalls mit Hilfe eines therapeutischen Angebots, zu einem stabileren Erziehungsmodus gefunden habe.

 
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