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Würzburg
Endlich Glück haben: Wie Helmut Mitschke die Kurve bekam
Familie ist nicht immer heile Welt. Sie kann auch grausam sein. Helmut Mitschke (47) war ganz unten. Sein Leben ein Überlebenskampf. Dann kam Timo. Und mit ihm die Wende.
Endlich Glück haben: Wie Helmut Mitschke die Kurve bekam       -  Trotz Handicaps und Schicksalsschlägen kämpfen sich Timo Jäger und sein Stiefvater Helmut Mitschke tapfer durchs Leben. Sie sind bei der Integrationsfirma Win in Würzburg angestellt. 
Foto: Thomas Obermeier | Trotz Handicaps und Schicksalsschlägen kämpfen sich Timo Jäger und sein Stiefvater Helmut Mitschke tapfer durchs Leben. Sie sind bei der Integrationsfirma Win in Würzburg angestellt. 
Pat Christ
Pat Christ
 |  aktualisiert: 27.04.2023 08:02 Uhr

Wenn Helmut Mitschke aus seinem Leben erzählt, klingt es, als hätte jemand ein halbes Dutzend schwerer Schicksalsschläge zusammengemischt. Glückliche Kindheit? Fehlanzeige. Sorglose Jugend? Ganz und gar nicht. Familie? Nur ein Begriff. Negativ besetzt. Das Wort „Vater“ bringt Helmut Mitschke bis heute nicht über die Lippen. Ein Vater, das war der Mann, der ihn gezeugt hatte, nie für ihn gewesen. Mitschke zeigt auf seine Narben: „Er hat gesoffen, immer gab es Prügel.“ Die Mutter schaute zu. Auch außerhalb des Elternhauses ging es dem heute 47-Jährigen nicht gut. Er war immer der Außenseiter gewesen. Eckte an. „Ständig haben sie mich verprügelt“, erzählt Mitschke. Einen einzigen Freund gab es: Udo. „Ich glaube, der ist inzwischen tot.“

Misshandlungen in der Herkunftsfamilie, Mobbing in der Schule, harsche pädagogische Sanktionen, miese Jobs, Scheidung, Schulden, Obdachlosigkeit: „Es ist alles so traurig.“ Das sagt nicht Mitschke selbst. Sondern sein Stiefsohn Timo Jäger. Seit etwas mehr als fünf Jahren kennen sich die beiden. In einer Werkstätte für psychisch kranke Menschen haben sie sich kennen gelernt. Helmut Mitschke kam so in Kontakt mit Timos Mama. Verliebte sich in sie. Und heiratete sie im Mai 2018: „So, wie es jetzt ist, ist es endlich gut.“

Vom Vater verprügelt 

Weil es jetzt gut ist, kann Mitschke seine Geschichte erzählen. Als Jüngstes von vier Geschwistern wurde er zu DDR-Zeiten in einem Dorf bei Potsdam geboren: „Mein jüngster Bruder war elf Jahre älter.“ Seinen Vater kennt er nur besoffen. Unvergessen bleibt ihm ein sonniger September-Tag 1978. Der Vater hatte sich, mit den üblichen Trinkutensilien bepackt, auf den Weg in den Wald gemacht. Und kam nicht mehr zurück. Der Schwager schnappte den kleinen Helmut: „Los, geh mit, wir müssen ihn suchen.“ An einer Birke fanden sie ihn: „Er hing am Stamm.“ Helmut kletterte hoch. Band den Vater los: „Er war ganz blau im Gesicht.“ Daheim habe sich der Vater schnell erholt. Es war bald, als wäre nichts gewesen: „Am Abend prügelte er mich wieder.“ Da wünschte Mitschke zum ersten Mal, der Vater wäre tot.

Udo, den Freund, dem es zu Hause genauso mies ging, lernte er kennen, da war er etwa zwölf. Udo half Helmut, wenn sich die Meute auf dem Schulhof auf ihn warf und ihn verkeilte. Die Freunde waren bald unzertrennlich. Sie standen einander bei. Und heckten Streiche aus. „Ich weiß nicht, was uns geritten hat, aber wir beschmierten irgendwann eine Schulwand und die Schulgarage“, erzählt Mitschke. Der 13-jährige Helmut wurde daraufhin von der Schule genommen und einer vormilitärischen Ausbildung unterzogen: „Bei 25 Grad Hitze robbten wir mit der Gasmaske im Gelände.“

"So, wie es jetzt ist, ist es endlich gut!"
Helmut Mitschke, Hausmeister in Würzburg 

In die Schule kehrte Mitschke nicht mehr zurück. Nach dem Kasernenhofdrill absolvierte er eine Lehre in einer Brauerei: „Als Getränkeabfüller.“ Später war er auf dem Bau beschäftigt. Mitschke biss sich durch. Unter erschwerten Umständen. Das tragische Vorbild des Vaters färbte ab. Auch Mitschke trank erhebliche Mengen Alkohol: „Anders hätte ich die Situation daheim nicht ausgehalten.“ Er verlor den Führerschein. Was seine Jobchancen schmälerte, obwohl er es zwischenzeitlich geschafft hatte, eine Lehre als Gas- und Wasserinstallateur durchzuziehen. Es folgten 15 Jahre als Leiharbeiter.

Der kärgliche Lohn passte nicht zu der anspruchsvollen Frau, die Mitschke bis heute als „seine große Liebe“ bezeichnet. Bald ging es mit der Ehe den Bach hinunter. Im verflixten siebten Jahr trennte sich das Paar. Mitschke ging mit Schulden aus der Beziehung hervor: „Und ich verlor meine beiden Söhne.“ Über Zeitarbeit strandete der Handwerker 2005 im Landkreis Kitzingen. Bei einem regionalen Industriebetrieb war er im Einsatz. Nicht mal sieben Euro gab es pro Stunde für harte Arbeit. Mitschke konnte sich keine Wohnung leisten: „Ich schlief ein paar Tage im November in einer Bushaltestelle.“ Auf einem Acker fand er noch Rüben. Die stillten den gröbsten Hunger.

Zusammenbruch mit 3,9 Promille 

Über das Arbeitsamt kam er später zu einer Entrümpelungsfirma. Ein Job, der ihn an die Grenze brachten: „Wir entrümpelten Messie-Wohnungen.“ Und manchmal räumten sie Buden, wo jemand tagelang tot gelegen hatte. Mitschke trank, um auszuhalten, was er sah. Dann brach er zusammen: „Mit 3,9 Promille.“ Mitschke kam in eine Psychiatrie, wo er acht Monate behandelt wurde. Seitdem trinkt er keinen Tropfen.

Das Jahr 2013 brachte die ersehnte Wende. Mitschke, der wegen seiner schweren Suchterkrankung noch unter Betreuung stand, kam in eine Werkstatt für psychisch Kranke. Diese Tagesstätten bieten Angebote für chronisch psychisch kranke und behinderte Menschen, die längerfristig keine Arbeit finden und krankheitsbedingt aus eigenen Kräften keine für sich sinnvolle Tagesstruktur und Beschäftigung erreichen können. Zuständig in der Region ist dafür der Bezirk Unterfranken. 

„Gleich am ersten Tag in der Werkstatt lernte ich Timo kennen“, erzählt Helmut Mitschke. Der um 20 Jahre jüngere Mann, der an Tics und einer Sprachstörung leidet, half dem Kollegen, Günstiges für seine neue Wohnung zu organisieren. Im Internet ersteigerte er für Mitschke einen Kühlschrank. Zu dritt ging man los, um das Gerät abzuholen: Timo, Timos Mama und Helmut Mitschke. Ein halbes Jahr später war Mitschke mit Timos Mutter zusammen.

Endlich Glück haben: Wie Helmut Mitschke die Kurve bekam       -  Timo Jäger und sein Stiefvater Helmut Mitschke arbeiten gemeinsam als Hausmeister.
Foto: Thomas Obermeier | Timo Jäger und sein Stiefvater Helmut Mitschke arbeiten gemeinsam als Hausmeister.

„Für mich ist Helmut ein echter Vater“, sagt Timo, dessen Eltern sich trennten, als er acht Jahre alt war. Am Trennungstag habe er nur geheult. Später begannen die Tics, die Timo nicht loswird. Dass auch bei ihm ein familiäres Desaster am Anfang seines psychischen Leidens steht, verbindet Vater und Stiefsohn. Helmut Mitschke kann verstehen, wie es Timo als Junge erging.

Die beiden sehen sich oft. Mehrmals in der Woche arbeiten sie sogar zusammen. Ende 2016 kam Helmut Mitschke zum Würzburger Integrationszentrum win, wo auch Timo tätig ist. Beide machen Hausmeistertätigkeiten. Ein Job, der ihnen Spaß macht. Der die Teilhabe am Leben ermöglicht. Integrationsfirmen kümmern sich um den beruflichen Einstieg und das Fortkommen von Menschen mit Handicap. Zum ersten Mal, sagt Mitschke, fühlt er sich an einem Arbeitsplatz wohl. Keiner triezt ihn. Er hat nicht das Gefühl, ausgebeutet zu werden. Ähnlich geht es Timo. Dessen größter Wunsch lautet denn auch: „Ich will, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist.“

Helmut Mitschke lächelt. Ja, das würde er sich auch wünschen. Sonst hat er nur noch einen klitzekleinen Extrawunsch: „Es wäre so schön, wieder ein Auto zu haben.“ Mag’s eine ältere Karre sein. Nichts Besonderes. Aber wieder selbstständig dorthin fahren zu können, wohin man möchte. Das wäre ein Traum!"

Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap
Die Würzburger win gGmbH ist ein auf Reinigungs- und Hausmeisterdienste spezialisiertes integratives und gemeinnütziges Dienstleistungszentrum. Fast jeder zweite Beschäftigte hat ein Handicap. Viele Beschäftigte waren vor ihrem Eintritt ins Unternehmen jahrelang vergeblich auf Jobsuche. Rund 270 Mitarbeiter sind derzeit an 40 win-Standorten in Bayern beschäftigt. Behinderte und nichtbehinderte Menschen arbeiten gemeinsam für Kunden aus den Bereichen Industrie, Gewerbe, öffentliche Einrichtungen sowie Privatkunden. Das Integrationsamt fördert Jobs von Mitarbeitern mit Schwerbehindertenausweis.
Der Bezirk Unterfranken hat über die Förderung der Integrationsämter hinaus eigene Richtlinien zur Förderung und zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Integrationsunternehmen für psychisch kranke und psychisch behinderte Menschen erlassen. Nach diesen Richtlinien kann der Bezirk als freiwillige Leistung Geldmittel für die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen für kranke Menschen zur Verfügung stellen. (pat)
 
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