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WÜRZBURG
Ein israelischer Dichter aus Würzburg
Jehuda Amichai mit seiner Kinder- und Jugendfreundin Ruth Hannover, die von den Nazis im Konzentrationslager umgebracht wurde.
Foto: Hana Amichai | Jehuda Amichai mit seiner Kinder- und Jugendfreundin Ruth Hannover, die von den Nazis im Konzentrationslager umgebracht wurde.
Bearbeitet von Karl-Georg Rötter
 |  aktualisiert: 07.04.2020 11:42 Uhr

Am 3. Mai 1924 kam Ludwig Otto als zweites Kind der Eltern Friedrich und Frieda Pfeuffer in der Würzburger Augustinerstraße 9, einem alten dunklen Barockbau, auf die Welt. Warum sollte man sich an dieses Datum erinnern? Weil der neugeborene Würzburger zum Begründer der modernen hebräischen und israelischen Lyrik und einem der großen Lyriker des 20. Jahrhunderts heranwachsen sollte.

Dass er nicht in deutscher Sprache schrieb, hing mit der jüdischen Religion und Abstammung seiner Vorfahren ab, die schon viele Generationen in Giebelstadt und in Hessen gelebt hatten. Der Vater und der Onkel des kleinen Ludwig führten gemeinsam ein Geschäft für Posamenterie (Litzen, Borten, textile Besatzwaren) in der Neubaustraße 12, seit 1918 in der Domerschulstraße 13 und engagierten sich als tiefgläubige orthodoxe Juden in der Gemeinde.

Freundschaft mit Ruth Hannover

Der kleine Ludwig besuchte den jüdischen Kindergarten und die jüdische Schule, erhielt Unterricht in Hebräisch und lernte Ruth, die jüngste Tochter des Würzburger Rabbiners Dr. Hannover, kennen. Seit 1929 lebten beide fast als Nachbarskinder in der St. Benediktstraße, damals Alleestraße, so dass sie viel Zeit miteinander verbrachten und eine enge Freundschaft entstand, in der das etwas ältere Mädchen die führende Rolle innehatte.

1933 veränderte sich die bislang fast heile Welt der Kinder. Ruth verlor bei einem Verkehrsunfall ein Bein und die Umwelt außerhalb der jüdischen Familien, der Schule und Gemeinde wurde immer feindseliger, bis die beiden Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule im Ringpark von einer Gruppe Hitlerjungen überfallen und zusammengeschlagen wurden. Diese Erniedrigung und Gewalt vergaß Ludwig Pfeuffer sein Leben lang nicht. Diese und andere judenfeindliche Gewalttaten ließen insgesamt acht Zweige der Familie Pfeuffer den Entschluss fassen,1935 nach Palästina auszuwandern.

Im Exil in Palästina

Eine kleine landwirtschaftliche Stadt bei Tel Aviv, Petach Tikwa, bot ihnen erste Unterkunft. Der Vater gründete dort sogar eine deutsche orthodoxe Gemeinschaft, doch der junge Ludwig lernte schnell nicht nur Iwrit, die neuhebräische Verkehrssprache, sondern auch das freiere und weltliche Leben der jüdischen Kinder. Obwohl die Familie 1937 in das religiöse und konservative Jerusalem umzog, entfremdete sich Ludwig der Religion seiner Vorfahren und wurde Anhänger der modernen politischen Ideologie des Zionismus. Dieser wollte einen sicheren Staat für die Juden in aller Welt als Schutz vor Verfolgungen in Palästina begründen und nach demokratischen und sozialistischen Grundsätzen aufbauen.

Direkt nach dem Abitur musste Jehuda Pfeuffer, wie er sich nun nannte, in den Militärdienst und kämpfte schließlich als jüdischer Soldat in der britischen Armee gegen die deutsche Wehrmacht in Nordafrika und Italien. Er musste noch 1948, 1956, 1967 und 1973 die Uniform anlegen, um sein Land gegen arabische Angriffe zu verteidigen. Seine patriotische Gesinnung1945 verdeutlicht die Wahl seines Nachnamens „Amichai“, übersetzt: „Ich bin mein Volk“. Der sich verschärfende Konflikt zwischen Israel und den Arabern ließ ihn jedoch vor allem zum Friedensfreund werden, was er in seinen Gedichten verdeutlichte.

Gedichte über Liebe und Krieg

Zunächst dachte Amichai wohl nicht an die Lyrik, als er sich zum Lehrer ausbilden ließ. Das Weiterstudium in Jerusalem führte zu seiner Hochschullehre in Bibelwissenschaft und hebräischer Literatur, gute Voraussetzungen für einen Lyriker, der sich in der neuhebräischen Sprache ausdrücken wollte.Er schrieb über sich und sein Leben, seine Liebe und den Krieg, über Entwurzelung, Entfremdung, den Alltag und die Fragen und Zweifel der jüdischen Existenz.1955 veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband, dem noch viele folgten, denn er traf das Denken und Fühlen seiner Generation, seiner Landsleute, aber auch einer Leserschaft rund um die Welt.

Würzburg-Besuch als Roman-Impuls

Nach einem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt 1958 schrieb er seinen Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“, in dem er die Probleme der Entfremdung und Identität, der Shoah und des Lebens in Israel mit der Heimkehr des Archäologen Joel in seine Geburtsstadt Weinburg verband. Es wurde ein großes und sperriges Werk.

Er heiratete zum zweiten Male, hatte mit Hannah zwei Kinder und schrieb. Trotz eines weiteren Romans, Kurzgeschichten und Hörspielen wurden vor allem seine Gedichte aufgenommen, so dass er nicht nur in der Rolle eines israelischen „Nationaldichters“, sondern auch als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gesehen wurde. Auch in Würzburg fieberte ein wachsender Freundes- und Lesekreis bei den Bekanntgaben der neuen Preisträger für Literatur mit. Zwar hatte Amichai 1982 den Würzburger Kulturpreis erhalten, aber seinen Roman, der auch in Würzburg spielt, konnte man erst zehn Jahre später in deutscher Übersetzung lesen.

Mehrmals weilte Amichai in Würzburg und Deutschland, sprach mit tiefer ruhiger Stimme und leicht fränkischem Akzent zu uns, von Vergangenheit und Versöhnung. Viele hätten ihm den Nobelpreis gegönnt, doch am 22. September 2000, am Beginn des neuen Millenniums endete das Leben dieses großen Würzburgers und Israelis.

Von unserem Gastautor

Hans Steidle

Yehuda Amichai bei seiner Einschulung in Würzburg.
Foto: Hannah Amichai | Yehuda Amichai bei seiner Einschulung in Würzburg.
 
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