Die belgischen Sicherheitsbehörden sind der großen Dschihdadisten-Szene in ihrem Land nicht gewachsen, sagt Terrorismusexperte Peter Neumann. Auch der EU stellt er in Sachen Sicherheit ein schlechtes Zeugnis aus.
Peter Neumann: In Belgien hat sich etwas zusammengebraut und das war für jeden offensichtlich, der die Entwicklung verfolgt hat. Aus Belgien kommen rund 500 sogenannte Auslandskämpfer des Islamischen Staats. Auf die Einwohnerzahl umgerechnet ist es damit das am stärksten von Dschihadisten betroffene Land. Wir haben in Belgien eine riesige Schere zwischen den zahlenmäßig kleinen Sicherheitsbehörden und einer riesigen dschihadistischen Szene. Und das ist den Terroristen auch bekannt: Sie haben sich nicht umsonst Belgien ausgesucht, um die Anschläge in Paris zu planen. Sie wissen, dass es Dschihadisten dort am einfachsten haben.
Neumann: Ich habe ja davor gewarnt zu glauben, dass die Sicherheitslage durch diese Verhaftung besser geworden ist. Man kann jetzt natürlich spekulieren. Ich bezweifle aber, dass dieser Anschlag nur als Reaktion auf die Festnahme Abdeslams durchgeführt wurde. Solche Aktionen müssen schließlich meist monatelang vorbereitet werden. Eine Theorie, die aber durchaus plausibel ist, ist die, dass der Anschlag früher als ursprünglich geplant durchgeführt wurde. Es kann durchaus sein, dass nachdem bekannt wurde, dass Abdeslam Informationen an die Behörden weitergibt, seine Verbündeten in Freiheit unter Zeitdruck gerieten. Vielleicht haben sie sich gedacht, wir müssen jetzt losschlagen, bevor die Polizei vor der Türe steht.
Neumann: Der größte Fehler ist, dass die Situation ja nicht erst seit gestern bekannt ist, aber trotzdem nichts unternommen wurde. Ich kenne viele belgische Nachrichtendienstler und Polizeileute, die seit 2013 sagen, dass man dem Problem des Dschihadismus nicht mehr gewachsen ist. Aber es ist politisch nichts passiert. Man hätte vor Jahren anfangen müssen, die Kapazitäten auszubauen. Das ist versäumt worden, jetzt wird es wahrscheinlich passieren, aber das ist immer so: Es muss immer erst etwas passieren, bevor die Politik reagiert.
Neumann: Absolut. Es gibt in Europa drei Probleme. Die erwähnte Kapazität der Sicherheitsbehörden, die Abwesenheit systematischer Präventionsprogramme und das dritte ist das Thema Kooperation.
Man kann dieses Schengen-System mit offenen Grenzen nur dann aufrechterhalten, wenn es auch innerhalb dieses Raumes eine systematische und nahtlose Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden gibt. Das ist nach wie vor nicht der Fall.
Neumann: Es gibt zum Beispiel nicht eine Datei, auf die alle europäischen Sicherheitsbehörden zugreifen können und in der alle Namen von allen europäischen Auslandskämpfern und Terrorverdächtigen gelistet sind. Das muss sich ändern. Auch der Drahtzieher der Anschläge in Paris, Abdelhamid Abaaoud, ist mehrfach nach Europa eingereist ist – obwohl Name und Gesicht bekannt waren. Die Behörden haben das nicht bemerkt und wenn sie etwas bemerkt haben, haben sie das nicht weitergemeldet.
Neumann: Solche Ereignisse sind immer potenzielle Ziele. Das bedeutet aber nicht, dass dieses Länderspiel an sich im Fadenkreuz stehen muss. Ich denke aber, dass man sich im Hinblick auf die Europameisterschaft im Sommer in Frankreich Gedanken machen muss, wie man bestehende Lücken schließen kann.
Genauso wie jetzt wieder neu darüber nachgedacht wird, wie man die Sicherheit an Flughäfen erhöhen kann, muss man sich überlegen, wie es mit der Sicherheit bei Sportereignissen aussieht? Ist das Risiko vielleicht sogar so weit angestiegen, dass wir möglicherweise Maßnahmen ergreifen müssen, über die wir bisher gesagt haben, das ist nicht gerechtfertigt? Und das gilt für Sportereignisse, für den öffentlichen Nahverkehr und den überregionalen Zugverkehr. Es ist allen klar: So tragisch die Ereignisse von Paris und Brüssel auch waren, es werden wohl nicht die letzten Anschläge in Europa bleiben.
Peter Neumann leitet am Londoner King's College das „Internationale Zentrum zum Studium von Radikalisierung“. Der 41-jährige Würzburger berät unter anderem den UN-Sicherheitsrat.