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Würzburg
Dreikönigs-Geschenk: Warum die Myrrhe Arzneipflanze des Jahres ist
Wieso brachten die drei Weisen nicht nur Gold und Weihrauch nach Bethlehem? Weil Myrrhe Medizin war. Der Würzburger Studienkreis Arzneipflanzenkunde würdigt jetzt den Baum.
Einst ausgesprochen wertvoll: Weihrauch und Myrrhe sollen schon die Heiligen Drei Könige dem neugeborenen Jesuskind geschenkt haben. Das gemörserte Harz gilt als eines der ältesten Räuchermittel der Welt.
Foto: Wentker/gms | Einst ausgesprochen wertvoll: Weihrauch und Myrrhe sollen schon die Heiligen Drei Könige dem neugeborenen Jesuskind geschenkt haben. Das gemörserte Harz gilt als eines der ältesten Räuchermittel der Welt.
Alice Natter
 |  aktualisiert: 10.05.2023 10:22 Uhr

Sie hatten sehr Wertvolles dabei. Als drei Sterndeuter aus dem Osten diesen besonders hellen Stern am Firmament entdeckten, so steht es in der Bibel geschrieben, machten sie sich auf. Viel strahlender als alle anderen war der Stern, und die Weisen vermuteten, dass er von der Geburt des Königs der Juden kündete und ihnen den Weg wies. Ihre Geschenke, die sie der Überlieferung nach dem Neugeborenen bringen wollten, waren kostbar und die bedeutendsten Arzneimittel der damaligen Zeit: Gold und das Harz zweier Bäume.

Gold hatte lange schon als medizinisches Heilmittel gegolten. Seine Späne, so nahm man an, würden das Herz stärken. Weihrauch besteht aus dem Harz des Boswelliabaumes, das kristallisiert zu gelblichen Körnern verbrannt wird. Er ist damit ein Verweis auf die Göttlichkeit des Beschenkten. Die dritte Gabe, die die Weisen aus dem Morgenland nach Bethlehem brachten: die in der Heiligen Schrift vielfach erwähnte Myrrhe. Ihre Bedeutung in der Kultur- und Medizingeschichte und Erkenntnisse der jüngeren Forschung werden jetzt gewürdigt: Der interdisziplinären Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde hat den Myrrhenbaum gerade zur Arzneipflanze des Jahres 2021 gewählt.

Commiphora myrrha, ein Laub abwerfender, dorniger kleiner Baum aus der Familie der Balsambaumgewächse, der bis zu vier Meter hoch werden kann. Seine Heimat sind die Trockengebiete im Nordosten Kenias und dem östlichen Äthiopien, in Somalia sowie auf der arabischen Halbinsel. Kein Wunder also, dass die Heiligen Drei Könige Zugang hatten . . .

Wahrhaft biblisches Arzneimittel

„Die rituelle und medizinische Nutzung des aromatischen Gummiharzes der Echten Myrrhe wird bereits in den ältesten erhaltenen Aufzeichnungen der Menschheit erwähnt“, sagt Tobias Niedenthal vom Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde. Vor allem die Erwähnungen in der Bibel sind uns vertraut: Im zweiten Buch Mose (30,23-25) findet sich Myrrhe als erster Bestandteil des heiligen Salböls.

Arzneipflanze des Jahres 2021: der Myrrhenbaum.
Foto: Vladimir Melnik | Arzneipflanze des Jahres 2021: der Myrrhenbaum.

„Das balsamisch-süß und würzig-warm riechende Harz ist getrocknet sehr stabil“, sagt Niedenthal. So konnte es im Altertum als wertvolles Gut auch über lange Handelswege transportiert werden. Am bekanntesten indes ist eben jene Stelle des Matthäus-Evangeliums (Mt 2,11), in der die Sterndeuter aus dem Osten dem neugeborenen Kind die drei heilsamen Gaben darbringen. Auch in altägyptischen Texten ist eine vielfältige medizinische Nutzung der Myrrhe belegt – unter anderem in Rezepturen zur Behandlung von Husten und zur Versorgung von Wunden.

„Im Mittelalter entwickeln sich Beschwerden des Verdauungstraktes zu einem Hauptanwendungsgebiet“, sagt Niedenthal. Beispielsweise beim persischen Arzt Ibn Sina (lat. Avicenna) in der Zeit zwischen 980 und 1037 n. Chr. und in der einflussreichen Schule von Salerno im zwölften Jahrhundert. Auch in den überlieferten Handschriften der Naturkunde Hildegards von Bingen finden sich zwei Kapitel zum Balsambaumgewächs.

Äste des Myrrhenbaums, hier im Kölner Botanischen Garten. 
Foto: Oliver Berg, dpa | Äste des Myrrhenbaums, hier im Kölner Botanischen Garten. 

Ausführlich beschreibt die Äbtissin die Anwendung der Rinde bei Gelbsucht und Lähmungen. In den frühen gedruckten Kräuterbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts dann fokussieren sich die Anwendungen auf Beschwerden der Atemwege und des Verdauungstraktes. Schließlich wird im 18./19. Jahrhundert die Myrrhe auch als Stärkungsmittel empfohlen.

Was man heute weiß: Myrrhe hemmt Entzündungen und wirkt antimikrobiell

Und heute? Zubereitungen aus Myrrhe werden in der Naturheilkunde wegen ihrer entzündungshemmenden und antimikrobiellen Eigenschaften eingesetzt – vor allem bei Entzündungen der Haut oder in Mund und Rachen. Auch für den Darm wird die Pflanze genutzt: „Eine Kombination mit Kamille und Kaffeekohle wird aufgrund positiver Ergebnisse in klinischen Studien zur remissionserhaltenden Behandlung bei Colitis ulcerosa empfohlen“, heißt es beim Studienkreis.

„Weltweit läuft derzeit eine umfangreiche Forschung, bei der neben dem Harz auch andere Bestandteile des Myrrhenbaumes untersucht werden“, sagt Niedenthal. Im Harz habe man „eine Fülle von pharmakologisch interessanten Substanzen“ ausmachen können. Die Wahl sei durch eine formalisierte Punktevergabe erfolgt: Sowohl die historische Bedeutung zählte wie auch die klinische Forschungslage zur aktuellen medizinischen Praxis. Der Myrrhenbaum übertraf alle anderen von der Experten-Jury vorgeschlagenen Arzneipflanzen.

Seit 1999 von Medizinhistorikern und Heilpflanzenkundlern gekürt: Arzneipflanze des Jahres  

Seit 1999 kürt der Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde die Arzneipflanze des Jahres. Vorrangiges Ziel ist es, an die Geschichte von Pflanzen in der europäischen Medizin zu erinnern und zugleich auf den Nutzen altbekannter Heilpflanzen für die pharmazeutische Anwendung heute hinzuweisen. Seine Wurzeln hat der Studienkreis am Institut für Geschichte der Medizin der Universität Würzburg. Für 2020 beteiligten sich erstmals das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingolstadt, das Deutsche Apotheken-Museum aus Heidelberg sowie der 2018 eingerichtete Lehrstuhl für Aroma- und Geruchsforschung an der Uni Erlangen.

Der Würzburger Medizinhistoriker Dr. Johannes Gottfried Mayer, der im vergangenen Jahr starb, hatte vor fünf Jahren in einem Artikel über die neuen Beobachtungen zur Tradition des wahrhaft biblischen Arzneimittels geschrieben. Das wertvolle Handelsgut der drei Weisen aus dem Morgenland war in der Antike auch zu kultischen Zwecken verwendet worden – etwa zur Räucherung in Tempeln oder zur Einbalsamierung von Toten. Und eben als Arzneimittel. Dem größten Werk der Antike über die Arzneimittel zufolge, der „Materia medica“ des griechischen Arztes Dioskurides um 60 n. Chr., wirkt Myrrhe gegen chronischen Husten, Seiten- und Brustschmerzen sowie starken Durchfall und Nierenleiden. Man verwendete Myrrhe gegen Heiserkeit und Mundgeruch, gegen Darmwürmer, Entzündungen und Zahnfleischschwund.

Es tropft aus dem Stamm: Das Harz ist reich an ätherischen Ölen.
Foto: Vladimir Melnik | Es tropft aus dem Stamm: Das Harz ist reich an ätherischen Ölen.

Noch detaillierter sind die Hinweise beim bedeutendsten Arzt des Mittelalters, Ibn Sina. Johannes Gottfried Mayer zufolge beschreibt er im zweiten Buch seines riesigen „Qanun at-Tibb“ die Myrrhe sehr ausführlich. Vor allem für Magenbeschwerden setzt er die Myrrhe ein. Die Anregungen aus der arabischsprachigen Medizin wurden gut 100 Jahre später in Europa übernommen. Das bedeutende „Circa instans“ aus der Mitte des 12. Jahrhunderts empfiehlt die Myrrhe in Form von Pillen gegen Schnupfen. Eine Abkochung von Myrrhe in Wein stärke die Verdauung und wirke gegen Mundgeruch sowie gegen Eiter in Magen und Darm. Und der inhalierte Rauch solle „das Gehirn stärken“. 

Was Hildegard von Bingen empfahl 

Bei Hildegard von Bingen in der „Physica“ beginnt das Myrrhen-Kapitel mit detaillreichen Ausführungen zur Wirkung gegen Zauberei. Die Myrrhe habe „die unverderbbare Kraft der Erde und duldet daher keine Windbeutelei (Betrug), sondern verjagt alles Windige, und der Teufel verabscheut sie, weil ihre Natur nicht verderbt werden kann und nie ihre Kraft verliert.“ Interessant sind laut Mayer die Angaben der Benediktinerin zur eigentlichen Heilkunde: Wer an Magenschmerzen leide, die von schädlichen Säften herrühren, solle sich eine Salbe aus Myrrhe, Aloe und Fünffingerkraut mit Honig zubereiten und damit ein Hanftuch bestreichen, das man sich auf den Bauch bindet.

Im meistgedruckten Kräuterbuch des 16. Jahrhunderts, geschrieben von Pietro Andrea Mattioli, dem Leibarzt Kaiser Maximilians II., heißt es, dass Myrrhe in der Größe einer Bohne genommen gegen Husten, Asthma, Seitenschmerzen (also Lungen- oder Rippenfellentzündung), Durchfall und Ruhr helfe. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert rühmte Christoph Wilhelm Hufeland, einer der maßgeblichen Ärzte in Deutschland, die Myrrhe als Tonikum für Magen, Herz und Nerven. Das „Lehrbuch der biologischen Heilmittel“ von Gerhard Madaus von 1939 schließlich weist als Hauptanwendungsgebiet Erkrankungen der Mundhöhle aus.

Heute wird die mystische Myrrhe vorwiegend bei entzündlichen Erkrankungen eingesetzt. Besonders gut erforscht wurden Medizinhistoriker Mayer zufolge in der jüngeren Vergangenheit die Wirkungen zur Stärkung der Darmbarriere und zur Linderung von Darmkrämpfen: „Daher wird Myrrhe – oft fertig kombiniert mit anderen Arzneipflanzen – auch in Studien zu chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und bei Reizdarm eingesetzt.“ In Kombination mit Kaffeekohle und Kamille wird Myrrhe als Arzneimittel aus der Apotheke seit über 50 Jahren zum Unterstützen der gesamten Magen-Darm-Funktion verwendet. „Ibn Sina lag also auch hier durchaus richtig.“

Für die Hausapotheke: Myrrhe zum Gurgeln und als Tinktur

In ihrem „Handbuch der Klosterheilkunde“ empfehlen Dr. Johannes Gottfried Mayer, der Arzt Dr. Bernhard Ueleke und Pater Kilian Saum Myrrhe beim ersten Kratzen im Hals und bei schmerzhaften Entzündungen im Mund.
Bei Halsschmerzen: In der Apotheke kann man sich eine Lösung aus Myrrhen-, Salbei-, Bibernellen- und Kamillentinktur zu gleichen Teilen mischen lassen. Sie enthält die schleimlösenden Bitterstoffe und Saponine von Myrrhe und Bibernelle und die desinfizierenden Stoffe des Salbeis. Kamille wirkt entzündungshemmend. Etwa 20 Tropfen der Lösung (für Kinder: 10 Tropfen) gibt man in ein halbes Glas mit warmem Wasser und gurgelt.
Bei Entzündungen in Mund und Rachen hat sich in der Klosterheilkunde eine Tinktur aus Myrrhe und Blutwurz bewährt: Zusammenziehende Gerbstoffe aus der Blutwurz wirken mit schleimlösenden Myrrhe-Stoffen zusammen. In der Apotheke lässt man sich dafür eine Lösung aus 30 ml Blutwurz-Tinktur und 50 ml Myrrhen-Tinktur mischen. Die Tinktur trägt man dann unverdünnt mit einem Wattestäbchen auf das entzündete Zahnfleisch oder die verletzte Schleimhaut auf und massiert sie vorsichtig ein. Bei leichten Beschwerden kann man 20 Tropfen in ein Glas lauwarmes Wasser geben und damit gurgeln. 
„Handbuch der Klostermedizin“, Zabert Sandmann
 
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