Alles begann mit „Rosemarie“. Mira, die Schwester von Marco Kempf, hatte Mitte der 70er Jahre von den Eltern eine griechische Landschildkröte geschenkt bekommen – aber bald schon war es der Bruder, der das Tier hegte und pflegte. „Mein Interesse war geweckt“, sagt Kempf, der während des Studiums in Bochum erste Kontakte zu Schildkrötenzüchtern im Ruhrpott knüpfte. Ein Schildkrötenmännchen kam dazu, und bald begann Kempf in seinem Heimatort Erlabrunn (Lkr. Würzburg) mit der Zucht – mit großem Erfolg. Heute besitzt der 52-jährige Ingenieur und Gastronom neben vielen griechischen Landschildkröten auch exotische Arten wie Panther- oder Strahlenschildkröte.
Zoologe vom Nürnberger Tiergarten gratuliert: „Sehr gute Haltung“
Doch solch ein außergewöhnliches Erlebnis wie in diesem Sommer hat Marco Kempf noch nicht erlebt: Denn bislang musste er die in den Freigehegen die von den Schildkröten verbuddelten Eier stets aus der Erde graben und im Brutkasten im Keller mit der idealen Temperatur von rund 30 Grad versorgen. 60 bis 90 Tage dauert die Brutzeit, dann arbeiten sich die Babys selbst aus dem Ei. Eier, die er nicht gefunden hatte, starben ab. Doch in diesem September machte er eine seltene Entdeckung: „Beim Füttern fand ich fünf kleine Landschildkröten im Gehege. Der Wahnsinnssommer hat dafür gesorgt, dass die Eier in der Natur ausgebrütet wurden“, sagt Kempf, dem das bislang noch nie gelungen war. „Das gibt es hier ganz, ganz selten“, sagt Kempf.
Das bestätigt Zoologe Helmut Mägdefrau, stellvertretender Direktor des Tiergartens in Nürnberg: „Da kann man nur gratulieren“, sagt er. Neben Glück und „einer offensichtlich sehr guten Haltung“, habe auch der Klimawandel den Zuchterfolg begünstigt. Besonders die Lagen im unterfränkischen Maintal würden Wärme gut speichern, so Mägdefrau. In der heimischen Tierwelt wird sich einiges verändern, so der Experte, es sei jetzt schon zu beobachten, dass sich wärmeliebende Art nach Norden ausbreiten würden. Laut historischer Aufzeichnungen sei in knapp 90 Jahren beispielsweise der Temperatur-Mittelwert für den Januar von -1,4 Grad auf 0 Grad gestiegen. „Das ist schon markant“, sagt Mädgedfrau.
91-jährige Züchterin aus Schweinfurt: „Das ist ein Wunder“
Auch Renate Schirmer hatte in diesem Sommer Glück. Die Schweinfurterin hat zwei Schildkröten, Adam und Eva. Seit 40 Jahren kümmert sich die 91-Jährige um die Tiere. Das Weibchen legt seine Eier immer in dasselbe Loch. Schirmer lässt sie in der Erde verrotten. Um die kleinen Schildkröten könnte sie sich nicht mehr kümmern. Nach ein paar Monaten gräbt Schirmer das Gelege wieder aus und wirft es weg. Verschenken darf sie die Eier nicht. Griechische Landschildkröten stehen unter Artenschutz. In diesem Jahr vergisst sie, die Eier auszugraben. Ihr Sohn arbeitet im Garten, als er das erste Tier entdeckt. Erst denkt Hans-Otto Schirmer, es handle sich um eine verdreckte Gummischildkröte: „Ich wollte die wegwerfen, da bewegten sich die Beinchen.“
Renate Schirmer wäscht die Schildkröten mit lauwarmem Wasser ab. Am Anfang sind sie so groß wie eine Fünf-Cent-Münze. „Die sieht man kaum im Gras.“ Wenn es warm genug ist, kommen die Tiere in ein kleines Gehege im Garten. Sonst sitzen sie in einem Glaskasten im Haus. Schirmer bestrahlt sie regelmäßig mit einer Infrarotlampe. Den Brutkasten hat sie vor Jahren weggegeben. Mittlerweile haben die Schildkröten die Größe einer Streichholzschachtel. „Ich hänge an solchen Tieren“, sagt Schirmer und setzt sie sich behutsam auf die Hand.
Schildkröte Rosemarie ist mindestens 70 Jahre alt
Die 91-Jährige ist überrascht, dass die Schildkröten in ihrem Garten geschlüpft sind. „Das ist ein Wunder, dass sowas in unseren Breitengraden passiert.“ Noch nie sei ihr das passiert.
Die Schildkrötenbabys von Marco Kempf stammen von griechischen und maurischen Landschildkröten und „sind etwa zehn Tage länger im Ei gewesen als ihre Brutkastengeschwister. Sie sind etwas kleiner, aber auch robuster und holen schnell auf“. Im November/Dezember bereitet sie Kempf dann auf ihren ersten, aber noch kurzen, Winterschlaf vor – zusammen mit Rosemarie, die immer noch in Erlabrunn am Salat und Löwenzahn knabbert „und mindestens 70 Jahre alt sein dürfte“.